Man nehme nur Louise Otto. Sie war eine der ersten deutschen Feministinnen, schrieb als Journalistin und Autorin Romane und flammende Aufrufe für die Rechte von Frauen und Arbeitern, engagierte sich in der Revolution von 1848/49. Kennt sie heute noch jemand? Gewiss, ja, doch im kollektiven Gedächtnis könnte man sie noch ein wenig tiefer verankern. Tanja Kinkel trägt dazu nun bei, und das ist nicht das einzige Verdienst ihres neuen Romans „Im Wind der Freiheit“.
Wie erzählt man vom schwierigen Ringen um die Demokratie vor knapp 200 Jahren? Wie vom Kampf mutiger Frauen, die bei Menschenrechten nicht nur an die Rechte von Männern denken, sondern mitgemeint sein wollten? Indem man die großen Ideen mit den Schicksalen einzelner Menschen verbindet, beim Eintauchen in die Geschichte zugleich die Gegenwart erklärt. Die Münchner Bestsellerautorin Tanja Kinkel („Verführung“, „Schlaf der Vernunft“) hat viel Erfahrung darin, akribisch recherchierte Historie in Romanform nahbar zu machen. Und es gelingt ihr auch in ihrem neuen Buch, ein großes Panorama aufzuspannen und dabei dicht an Menschen unterschiedlicher Herkunft zu bleiben.
Insbesondere zwei Frauenfiguren führt sie durch die Jahre vor und während der Revolution um 1848. Louise Otto ist die eine: eine Tochter aus wohlhabender Familie, die sich früh darüber empört, dass sie als Frau zeitlebens weitgehend rechtelos dem Manne untertan sein soll. Und die aufgrund einer Erbschaft in der seltenen Lage ist, sich weitgehend selbstbestimmt dem Schreiben zu widmen.

Als Gegenpol erfindet Kinkel eine junge Frau namens Susanne Grabasch, die aus elenden Verhältnissen stammt, früh Missbrauch kennenlernt und die Ausbeutung in einer sächsischen Webfabrik. Ja, der Zufall will es, dass in diesem Frühjahr neben dem Schriftsteller Jonas Lüscher (der sich in seinem literarisch experimentelleren Roman „Verzauberte Vorbestimmung“ insbesondere für das Verhältnis von Mensch und Maschine interessiert) auch Tanja Kinkel den Blick auf die entsetzlichen Bedingungen richtet, die im Frühkapitalismus in den Fabriken herrschten: Gnadenlos war das System, dem die Arbeiter und Arbeiterinnen ausgeliefert waren.
Welche Folgen solche Not für den einzelnen Menschen und die Gemeinschaft hat? „Prinzipien muss man sich leisten können“, sagt die Arbeiterin Susanne, die desillusioniert ums Überleben kämpft und von Taten mehr hält als schönen Worten. Dass das Schuften in der Fabrik oder später als Prostituierte auf der Straße auch Schwielen auf der Seele hinterlässt, ist unausweichlich und führt zum spannungstreibenden Dilemma: Susanne wird vom berüchtigten Mainzer Informationsbüro angeworben, um als Hausangestellte in den fortschrittlichen Kreisen um Louise Otto zu spionieren – und wird so zur Verräterin an der eigentlich guten Sache.
Auch wenn manche Wendung und Verbindung erzwungen wirkt: Tanja Kinkel gelingt es insgesamt sehr geschickt und anschaulich, nicht nur Frauen aus verschiedenen Schichten zusammenzubringen. Sie lässt auch einen Soldaten mit dem späteren Reichskanzler Otto von Bismarck zusammentreffen, setzt revolutionäre Vordenker wie Amalie und Gustav Struve oder Robert Blum mit Menschen aus dem Volk in Kontrast. Die historischen und erfundenen Figuren, die sie zeichnet, wirken dabei stets differenziert: Auch eine Pionierin wie Louise Otto ist nicht frei von Dünkel und blinden Flecken, wenn es um eigenes Fehlverhalten geht. Und Männer haben in der durch und durch patriarchalen Gesellschaft damals zwar die Hosen an, sind aber darum nicht alle Schweine.
Immer wieder diskutieren die Figuren an wechselnden vor- und revolutionären Schauplätzen zwischen Berlin, Baden, Frankfurt und Wien darüber, was Begriffe wie „Vaterland“ und „Freiheit“ bedeuten – und ob es eine Republik braucht oder besser einen Kaiser. Auch mit Lügen dreist die Wahrheit zu verdrehen, ist kein Phänomen nur unserer Tage, wie Kinkel zeigt: Rund um die erste Nationalversammlung in der Paulskirche ließen sich Manipulation und Hetze beobachten, tobten Macht- und Meinungskämpfe bis hin zum Mord an zwei Abgeordneten. Massen sind verführbar, und menschliche Niedertracht ist ohnehin zeitlos – Solidarität allerdings auch.

Überhaupt ist es gut, immer mal wieder die Perspektive zu wechseln. Dass 1848 unter anderem Frauen in jeder Hinsicht der Zugang zur Paulskirche verwehrt wurde, ist ein interessantes Detail: Louise Otto darf die Tagung des Vorparlaments im Roman nur versteckt hinter Fahnen miterleben, und auch das nur, weil eine wohlhabende Bekannte großzügig Bestechungsgelder verteilt hat. Das bestärkt sie in ihren Anliegen, für die Freiheit, für die Frauen zu kämpfen: „Es darf keine Gerechtigkeit nur für die eine Hälfte der Menschheit geben.“
Tanja Kinkel: Im Wind der Freiheit, Roman, Hoffmann und Campe, 480 Seiten, 26 Euro