Tagung zu Gastarbeitern:"In München habe ich meine zweite Wurzel"

Tagung zu Gastarbeitern: Gekommen, um zu bleiben: Orazio Vallone kam 1964 erstmals nach München, für 18 Monate. Sieben Jahre später kehrte er zurück - und blieb.

Gekommen, um zu bleiben: Orazio Vallone kam 1964 erstmals nach München, für 18 Monate. Sieben Jahre später kehrte er zurück - und blieb.

(Foto: Robert Haas)
  • Vor 60 Jahren hat Deutschland das erste "Anwerbeabkommen" unterschrieben, die ersten Italiener kamen zum Arbeiten nach München.
  • Nun setzen sich die Gastarbeiter von damals mit ihrer eigenen Geschichte auseinander:
  • Tagung "Italienische Migration" im Stadtarchiv, Winzererstraße 68. Montag, 21. Dezember, 10-17.30 Uhr. Anmeldung unter 089/233-30843.

Von Martin Bernstein

Es war ganz anders als heute - und doch ähnlich: Damals, vor 60 Jahren, als nach Unterzeichnung des Anwerbeabkommens am 20. Dezember 1955 die ersten Italiener zum Arbeiten nach München kamen. Für die Deutschen waren sie (und blieben es lange) "Gastarbeiter", für ihr Heimatland waren sie Emigranten.

Menschen vor allem aus Italiens unterentwickeltem Süden, dem Mezzogiorno, die anderswo ihr Glück versuchen, und es möglichst auch finden und dort bleiben sollten. "Für Deutschland war die Vereinbarung von 1955 das erste Arbeitsabkommen", sagt die Historikerin Grazia Prontera. "Für Italien war es das vierzehnte Emigrationsabkommen."

An manchen Tagen kommen zu Beginn der Sechzigerjahre bis zu 3000 Menschen aus dem Mittelmeerraum am Münchner Hauptbahnhof an, von wo aus viele weiterreisen - nach Wolfsburg etwa, als Arbeiter bei VW. Wer in München bleibt, heuert bei MAN, bei BMW, bei Krauss-Maffei, im U-Bahnbau, an der Olympia-Großbaustelle an. "Binario undici", Gleis 11: So lautet die erste Adresse für die Neuankömmlinge.

Eine "Weiterleitungsstelle" gibt es dort, einen alten Luftschutzbunker. Die Neuankömmlinge sollen "möglichst schnell vom Bahnsteig verschwinden, um nicht den Eindruck des Sklavenhandels zu schaffen", wird damals offiziell gefordert. Auch damals schon gibt es den Streit um Obergrenzen - festgeschrieben werden sie nicht. Und es gibt, was Orazio Vallone "ein bisserl Abstand" nennt: Misstrauen, Vorbehalte der Deutschen, Schwierigkeiten, eine Wohnung zu finden.

Deshalb sollen sich die Firmen um die Unterbringung der Arbeiter kümmern, haben die Regierungen vereinbart. Orazio Vallone schaut sich um im Filmraum des Münchner Stadtarchivs. Ungefähr so groß, erinnert er sich, war das Zimmer, in dem er 1964 sein Bett bezog und in dem er 18 Monate lang lebte. Zusammen mit elf Landsleuten, die wie er bei Mannesmann arbeiteten.

Dass Vallone an diesem Tag im Münchner Stadtarchiv ist, ist kein Zufall. Der Historiker Philip Zölls betreut dort das Projekt "Migration bewegt die Stadt", mit dem das Stadtarchiv und das Stadtmuseum gemeinsam diesen Aspekt der Münchner Geschichte erforschen. "Stadt ist Migration", sagt der Historiker. "Ohne Migration ist die Stadt nicht zu denken."

Zum 60. Jahrestag des Anwerbeabkommens findet nun eine Tagung statt, bei der Wissenschaftler und Vertreter der italienischen Vereine in München diskutieren. Für Mitorganisatorin Grazia Prontera steht neben der Forschungsarbeit in Archiven "die Perspektive der Akteure" im Vordergrund: "Die Geschichte dieser Menschen muss wahrgenommen werden." Claudio Cumani, Astrophysiker aus Garching und dort Mitglied im Integrationsbeirat, ergänzt: "Es gibt viele verstreute Quellen. Wir müssen aufpassen, dass sie nicht verloren gehen - und dafür sensibilisieren, dass sie aufgehoben werden."

Orazio Vallone muss dafür nicht mehr sensibilisiert werden. Der Sizilianer ist Anfang der Siebzigerjahre nach München zurückgekommen - diesmal, um zu bleiben. Er hat hier eine Familie gegründet und den Verein "Rinascita" (Wiedergeburt) mitinitiiert. Die Kulturvereinigung dokumentiert auch die Entwicklung der italienischen Gemeinschaft in München. "Wir versuchen zu retten, was zu retten ist", beschreibt Orazio Vallone die Sammelarbeit.

Auch ein Foto von einer Maikundgebung vorm Münchner Rathaus haben sie aufgehoben. Es illustriert das Tagungsprogramm von diesem Montag. Orazio Vallone zeigt auf den Mann in der weißen Jacke hinter dem Transparent: "Das bin ich." Und dann beginnt er aufzuzählen: Der Mann neben ihm, die einzige Frau auf dem Foto - er kennt sie alle noch. "In München habe ich meine zweite Wurzel", sagt er.

Warum italienische Einwanderer ein Sonderfall sind

Menschen wie Vallone nennt Claudio Cumani "Brückenpersonen": Migranten, die nicht nur in italienischen, sondern auch in deutschen Vereinen engagiert sind. Es sind Menschen der ersten Einwanderergeneration - schon die zweite Generation ist so gut integriert, dass sie ganz selbstverständlich in deutschen Vereinen ist. Andreas Heusler vom Stadtarchiv sieht die italienischen Migranten als Sonderfall, der nicht als "Blaupause" für andere Herkunftsländer und schon gar nicht für die aktuelle Migrationsbewegung dienen könne. Bayern und Italien hätten eine lange Beziehungsgeschichte, der italienische Lebensstil sei hier nicht als fremd empfunden worden.

Wirklich nicht? Natürlich - es gibt in München mehrere Hundert italienische Lokale. Und die Stadt gefällt sich in der Pose der nördlichsten Stadt Italiens. Doch Deutsche und Italiener lebten trotzdem lange Zeit eher neben- als miteinander. Was zum einen an rassistischen Vorbehalten gegenüber den "Südländern" und an der Angst vor billiger Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt lag. Zum anderen aber auch an den Einwanderern selbst. Auf den Bildern von Anfang der Sechzigerjahre sind fast nur Männer zu sehen. Sie wollten Geld verdienen - Geld, das sie ihren Familien nach Hause schicken konnten. "Man wollte billig wohnen", erzählt Orazio Vallone, "und Überstunden machen".

Später dann, mit der europäischen Freizügigkeit, kamen viele, um sich in Deutschland eine Zukunft aufzubauen. Und sie holten ihre Familien nach. "Darauf war Deutschland nicht vorbereitet", sagt Daniela di Benedetto, Bezirksausschussmitglied in Laim und gewählte Vertreterin der in München lebenden Italiener. Und sie erzählt von schulischen Erfahrungen der Kinder, davon, dass Zweisprachigkeit "nicht als Mehrwert anerkannt wird". Sie erzählt nicht etwa von den Anfängen der italienischen Migration, sondern von Erfahrungen, die erst drei, vier Jahre zurückliegen.

Beim Blick auf die Kinder gebe es durchaus Parallelen zur aktuellen Migrationswelle, sagt Claudio Cumani: "Deutschland wollte jahrelang nicht akzeptieren, ein Einwanderungsland zu sein." Daniela di Benedetto formuliert es so: "Die, die kamen, suchten eine Zukunft - nicht ein Gasthaus."

Tagung "Italienische Migration" im Stadtarchiv, Winzererstraße 68. Montag, 21. Dezember, 10-17.30 Uhr. Anmeldung unter 089/233-30843.

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