Tagebuch der Stadt:Der Münchner Stadtchronist hat ausgedient

Tagebuch der Stadt: Brigitte Huber ist die letzte Münchner Stadtchronistin.

Brigitte Huber ist die letzte Münchner Stadtchronistin.

(Foto: Stephan Rumpf)

Brigitte Huber war die letzte, die das Alltagsgeschehen der Stadt festgehalten hat - mit ihr endet eine Ära von rund 200 Jahren.

Von Wolfgang Görl

Fingerhuter, Salwurch oder Stadttorhüter - im Mittelalter waren das angesehene Berufe, aber irgendwann wurden sie nicht mehr gebraucht und starben aus, so wie auch Saurier, Säbelzahntiger und der liebenswerte Vogel Dodo vom Erdboden verschwanden. Auf der Liste der ausgestorbenen Berufe steht seit Jahresbeginn ein neuer Eintrag: Chronist der Stadt München. Es gibt ihn nicht mehr, er hat ausgedient. Damit geht eine Ära zu Ende, die im Jahr 1845 auf Beschluss des städtischen Magistrats begonnen hatte.

Der erste offizielle Münchner Stadtchronist war Ulrich von Destouches (1802-1863), der hauptberuflich als Bibliothekar der Magistratsverwaltung fungierte und sich auch als Dichter und Schriftsteller einen Namen machte. Er und seine Nachfolger haben gesammelt, geschrieben und nochmals geschrieben. Mehr als 70 Meter lang ist die Reihe der städtischen Tagebücher, die in den Regalen des Münchner Stadtarchivs stehen. Das Gedächtnis der Stadt auf Papier, aufgezeichnet vom Stadtchronisten. Nun aber teilt er das Schicksal der Saurier und des Dodos. Die Letzte ihrer Art war die Kunsthistorikern Brigitte Huber, die als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Stadtarchiv arbeitet.

Es ist nicht so, dass Huber etwa in Rente ginge. Nein, ihren Job macht sie weiter. Nur, die Münchner Chronik hat sie am 31. Dezember für immer geschlossen. Warum? "Weil es nicht mehr zeitgemäß ist, und man München nicht mehr so erfassen kann in acht Stunden Arbeitszeit pro Woche." Die Faktenflut, die sich täglich aus den Kanälen der Printmedien, des Radios und Fernsehens sowie des Internets ergießt, ist nicht mehr zu bewältigen. Und es ist ja auch sinnlos geworden. "Wer heute recherchiert, wird nicht in die Chronik schauen", sagt Huber. Und so hat sie zusammen mit dem Stadtarchiv-Direktor Michael Stephan und dessen Stellvertreter beschlossen, die Arbeit an der Chronik einzustellen.

Knapp 20 Jahre hat Brigitte Huber das Tagebuch der Stadt München geführt, wobei sie sich keineswegs darauf beschränkt hat, nur das aufzuschreiben, was gerade passiert ist. Zusätzlich hat sie noch Belege, Dokumente und dergleichen gesammelt, etwa um Hintergründe zu erhellen oder die jeweiligen Begebenheiten zu illustrieren. Sie hat mit Honoratioren und Institutionen korrespondiert, mit Betriebsräten, Globalisierungsgegnern, Anwälten oder Ehrenamtlichen gesprochen, hat Redetexte und Fotos erbeten sowie Wahlplakate, Karikaturen, Zeitungsausschnitte und Internet-Einträge zusammengetragen.

Das war mühsam, und nicht selten kostete es viel Zeit, an die begehrten Objekte heranzukommen. Schwierig war es beispielsweise, die E-Mail zu ergattern, die der Medienunternehmer Leo Kirch am Tag nach der Bekanntgabe der Insolvenz an seine Mitarbeiter geschickt hatte. Aber Huber hat es geschafft. Oder ist mit der Schankkontrolle durch die Wiesnzelte gezogen. Im Grunde hat sie das gemacht, was Ulrich von Destouches schon in den Anfängen der Chronik praktiziert hatte: das Alltagsgeschehen schriftlich festhalten und gegebenenfalls erläuternde Beilagen hinzufügen.

König Ludwig I. hatte den Wunsch nach einem Chronisten

Dass es überhaupt einen Münchner Stadtchronisten gibt, geht auf König Ludwig I. zurück. Der Monarch, dem es nicht zuletzt darum ging, mit identitätsstiftenden Projekten seine Herrschaft abzusichern, hat bereits 1829 den Wunsch geäußert, die bayerischen Städte und Gemeinden mögen Stadtchroniken anlegen und damit eine Form der Geschichtsschreibung wiederbeleben, die im Mittelalter da und dort gepflegt worden war - allerdings nicht in München.

Es dauerte jedoch 16 Jahre, bis der Münchner Magistrat sich entschloss, eine fortlaufende Chronik schreiben zu lassen. Destouches machte sich unverzüglich an die Arbeit. Dabei blickte er nicht nur auf die Gegenwart, deren Ereignisse er im "Jahrbuch der Stadt München", wie die Chronik offiziell hießt, notierte, sondern auch in die Vergangenheit. Bis zurück ins Jahr 1818 legte Destouches Jahrbücher an, weshalb man sagen darf, dass die Stadtchronik in ihrem 200. Jahr das Zeitliche gesegnet hat.

Die persönlichen Eindrücke des Stadtschreibers

In einem der Magazinräume des Stadtarchivs steht Brigitte Huber vor dem Regal, in dem die Tagebücher der Stadt aufbewahrt sind. Umfangreiche Bände sind darunter, einige so dick wie ein großer Laib Leberkäs. Vergleichsweise schmal ist dagegen das erste Jahrbuch, in dem Destouches rückwirkend die Ereignisse von 1818 aufgeschrieben hat.

In altdeutscher Handschrift steht eingangs zu lesen: "Der Sammler dieser Beiträge, welcher alle Ereignisse in München seit dem Jahr 1818 miterlebt hat, erfaßt diese Aufgabe mit um so größerem Eifer, als mit dem Jahr 1818 für ganz Bayern eine neue Entwicklungs-Periode begonnen hat, denn König Maximilian Joseph I. gab in diesem Jahr nicht nur das am 17ten May publizierte Edikt über die Verfassung und Verwaltung der Gemeinden, sondern auch an seinem 69.ten Geburtstag die Constitution des Königreiches."

Tagebuch der Stadt: Belege aller Art ergänzen die Aufzeichnungen, die bis 1917 handschriftlich waren.

Belege aller Art ergänzen die Aufzeichnungen, die bis 1917 handschriftlich waren.

(Foto: Stephan Rumpf)

In der Auswahl und dem Stil der Einträge offenbaren sich, wie bei einem persönlichen Tagebuch, die Vorlieben des Schreibers. Am 12. Oktober 1818 etwa frohlockte der Chronist: "Ein neuer Morgen verkündete heute den lieblichen Herbsttag, und der Donner der Kanonen sagte, daß es zugleich einer der schönsten Festtage des Vaterlandes seyn sollte. Das Namensfest des geliebten Königs Maximilian Joseph wurde in diesem Jahr besonders feyerlich begangen . . ."

Nach dem Tod Ulrich von Destouches' übernahm dessen Sohn, der damals 19-jährige Jurastudent Ernst von Destouches (1843-1916) die Chronik. Dieser perfektionierte die Methode seines Vaters, wobei er eine Sammelwut entwickelte, die ihm bisweilen den Spott seiner Zeitgenossen einbrachte. "Sogar die Theaterbillettln sammelt er", frotzelten die Leute, und damit hatten sie recht: Ernst von Detouches sammelte tatsächlich Theaterbilletts, aber auch Flugblätter, Konzertprogramme, Traueranzeigen, Fotos, Plakate, Speisekarten und vieles mehr.

Für heutige Historiker sind diese "Beilagen" eine Fundgrube, die wertvolle Informationen über das Alltagsleben der damaligen Zeit birgt. Wer etwa wissen will, was beim "Diner de Son Altesse Royal Le Prince Regent", also beim Diner Seiner Königlichen Hoheit des Prinzregenten am 26. Januar 1893 serviert wurde - voilà: Tournedos vom Rind, Poulardenfilets, Fasan, Salzburger Nockerl, um nur einiges zu nennen. Der staats- und königstreue Destouches hat die Speisekarte aufgehoben und dem Tagebuch beigefügt.

Geschichten von Königs und aus dem Leben

Doch nicht nur dem königlichen Hof gilt seine Aufmerksamkeit: Am 28. Juli berichtet er über eine Nonnenfalter-Plage, die unter anderem die Gäste des Franziskaner-Kellers heimgesucht hat. Auch die Gründung des "Münchner Zitherklubs" im April 1878 ist Destouches ein paar Zeilen wert, und offensichtlich zustimmend zitiert er einen Artikel des Bayerischen Landboten über den Plan, eine Frauenakademie zu gründen: "Die Lust, als eine Art von Studentinnen in den Hörsaal zu promenieren und dort den Halbgott Professor durch zärtlich-unschuldig-verliebte Blicke in Verlegenheit zu bringen, steckt freilich schon lange in vielen Dämchen. Doch so lange es noch auf deutschem Boden Männer gibt, werden aus Hirngespinsten kaum Taue geflochten werden."

1904 wiederum meldet der Stadtchronist, dass der bayerische Major Otto von Stetten zur Teilnahme am russisch-japanischen Krieg entsandt wurde und am 17. März seine Reise zum Hauptquartier der japanischen Armee antrat. Gleich darauf folgt eine spannende Meldung aus dem Reich der Parapsychologie: "Die letzte von der Psychologischen Gesellschaft veranstaltete Demonstration der Schlaftänzerin Madame Madeleine fand heute im Schauspielhaus statt. Die Frage der Hypnose der genannten Tänzerin hatte noch einmal in den letzten Tagen ihres Auftretens ( . . .) Veranlassung zu einer in der Tagespresse geführten wissenschaftlichen Kontroverse zwischen Professor Dr. Gustav Klein und Dr. Freiherrn von Schrenk-Notzing gegeben."

Einträge und spannende Beilagen

Im Kriegsjahr 1914 lief Destouches zu ganz großer Form auf. 17 Bände umfasst der Jahrgang, der neben den täglichen Einträgen zahllose Beilagen sowie Statistiken, Zeitungen und die städtischen Haushaltsberichte enthält. Dabei kommt auch makaber Kurioses zur Sprache, wie etwa am 5. November 1914: "Die Münchener Blumengeschäftsinhaber richteten an alle Mitbürger die Bitte, in der jetzigen schweren Kriegszeit den Todesanzeigen nicht weiter, wie bisher schon so oft, den Vermerk 'Kranzspenden dankend verbeten' anzufügen.

Sie führen dazu aus: 'Wir sind fest überzeugt, daß die Auftraggeber dieser Todesanzeigen nicht daran denken, was sie mit solchen Bekanntmachungen uns für Not bereiten. Jetzt, wo keine Gesellschaften mehr gegeben werden, bei den Nottrauungen so gut wie keine Blumen verwendet wurden und jeder den Kauf von Blumen auf das Mindeste beschränkt, sind wir in unserer Existenz schwer bedroht.'"

Tagebuch der Stadt: Das Gedächtnis der Stadt auf Papier, aufgezeichnet vom Stadtchronisten.

Das Gedächtnis der Stadt auf Papier, aufgezeichnet vom Stadtchronisten.

(Foto: Stephan Rumpf)

Ernst von Destouches ist schon seit zwei Jahren unter der Erde, als sein Nachfolger am 7. November 1918 die Revolution und das Ende der Monarchie schildert. Kurt Eisner, schreibt er unter anderem, "richtet an die Soldaten eine kurze Ansprache, in der er sagt, der Worte seien genug gesprochen, jetzt müssen Taten kommen". Es folgt ein ausführlicher Bericht, wie Soldaten und Zivilisten durch die Stadt ziehen, die Menge immer größer wird und schließlich das Telegrafenamt, den Hauptbahnhof "und die übrigen militärischen und staatlichen Gebäude besetzt".

Es lag stets im Bemessen des Chronisten, welche Ereignisse er der Erwähnung für würdig befand. Der persönliche Blickwinkel sei "sogar erwünscht", schreibt Brigitte Huber in ihrem Buch "Tagebuch der Stadt München". "Die Chronik versteht sich nicht als wissenschaftliches Werk, sondern versucht späteren Generationen von Benutzern ein Zeitbild zu vermitteln."

Im "Dritten Reich" erhielt die Chronik den Titel "Jahrbuch der Hauptstadt der Bewegung", und entsprechend nationalsozialistisch geprägt war auch der Ton, den der Chronist anschlug. So hieß es zum Beispiel in der Schilderung der Rituals, mit dem die Nazis der Toten des gescheiterten Hitlerputsches von 1923 gedachten: "Mit brausenden Heilrufen und stürmischem Händeklatschen danken die alten Kämpfer dem Führer für seine gewaltige Rede." Die letzten Meldungen klangen dann deutlich gedämpfter, so auch am 30. April 1945: "Am Nachmittag erfolgt die Besetzung der Stadt durch amerikanische Truppen. Von allen Richtungen her rücken die Amerikaner in mächtigen Kolonnen in das Stadtgebiet ein."

Eine Fundgrube für Historiker

So bleibt nach 200 Jahren eine kaum zu ermessende Fülle an Nachrichten und Dokumenten, die noch Generationen von Historikern beschäftigen wird. Darüber hinaus gibt es auch eine Chronik, welche die Zeiten vor dem Jahr 1818 bis zurück zu den Tagen der Stadtgründung berücksichtigt. Sie stammt aus der Feder des Historikers Helmuth Stahleder, der aus historischen Quellen wie etwa Urkunden und zeitgenössischen Notizen rückblickend ein dreibändiges Tagebuch der Stadt für jenen Zeitraum geschrieben hat, in dem es noch keine offiziellen Chronisten gab.

Brigitte Huber wiederum bleibt die Ehre, die letzte Münchner Stadtchronistin zu sein. Ein wenig schade ist es schon, dass eine Institution verschwindet, die so wunderbare Nachrichten wie die Folgende vom 10. August 1909 verewigt hat: "Ein wohl 10 000 Bienen starker Schwarm flog in der Theresienstraße bei der Kreuzung der Augustenstraße ein. Bis hinauf zum Dache eines vierstöckigen Hauses zog sich der Schwarm des mit einer jungen Königin ausgerückten 'Weiberstaates'. Die Königin kam auf den Einfall, sich auf einer der kugelförmigen Doppelösen der Straßenbahnoberleitung niederzulassen, worauf sich das Bienenvolk rasch um sie ansammelte. Bis der nächste Trambahnwagen vorbeifuhr, hatte sich bereits eine förmliche Traube gebildet, in die das Verderben jäh durch die von der Leitungsstange des Wagens ausströmenden elektrischen Funken hineingetragen wurde."

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