Szene München:Gefährliche Dorfkneipen

Kommt man an Weihnachten zurück in sein Heimatdorf, trifft man dort die alten Freunde, die auch in andere Städte gezogen sind. In Dorfkneipen von früher erzählt man sich wer verheiratet, schwanger, geschieden, insolvent oder ausgewandert ist. Doch nicht selten enden derartige Abende fatal.

Eine Kolumne von Judith Liere

An Weihnachten neigt der Mensch zu neurotischem Zwangsverhalten. Alles muss sein, wie es immer war, auf jede Abweichung von der Ordnung und dem vertrauten Ritual wird mit Hysterie reagiert. Das gilt besonders für Menschen, die noch keine eigenen Nachfahren haben und deshalb Weihnachten gern im früheren Elternhaus verbringen.

Männer und Frauen, die im beruflichen Alltag Flugzeuge steuern oder an Chef-Karrieren basteln, bekommen einen Weinanfall, wenn der Engel für die Christbaumspitze verschwunden ist oder die 35 Jahre alten Strohsterne beim Aufhängen den Zerbröselungstod sterben. Einmal im Jahr möchte man eben wieder eintauchen in die kostbare Illusion einer Kindheit.

Zu den Ritualen zählen aber auch Dinge, die sich nach dem Wegzug aus dem Heimatort erst etabliert haben, wie das Vorweihnachtstrinken am 23. Dezember. Das Vorweihnachtstrinken ist ein Brauch, dem vor allem diejenigen nachgehen, die in Orten aufgewachsen sind, die so klein sind, dass man sie sofort nach dem Abitur verlassen muss, weil dort für Entfaltung kein Platz gewesen wäre.

Kommt man an Weihnachten wieder zurück, trifft man die alten Freunde, die auch in andere Städte gezogen sind. So werden all die Dorfkneipen von früher, in denen man seltsame Würfelspiele spielte und Neunzigerjahre-Getränke wie KiBa bestellte, plötzlich von Gruppen großstädtisch aussehender Endzwanziger bis Mittdreißiger bevölkert. Die "Weißt du schon, wer verheiratet / schwanger / geschieden / insolvent / ausgewandert ist"-Geschichten werden mit Schnäpsen begossen, die in solchen Kneipen manchmal fragwürdiger Qualität sind, was man aber leider erst am nächsten Morgen merkt.

Und so ist die Trauer über den zerbröselnden Strohstern vielleicht gar kein sentimentales Festhalten an der vergangenen Kindheit, sondern einfach nur Überempfindlichkeit aufgrund eines richtig fiesen Katers.

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