Süddeutsche Zeitung

Szene München:Bis zum letzten freien Barhocker

In München grassiert eine Krankheit, die recht ansteckend zu sein scheint: der Reservierungswahn. Spießig, albern, unflexibel? Wer über diesen Virus lacht, sollte sich vorsehen. Verweigerer der frühzeitigen Abendplanung müssen nämlich immer öfter draußen bleiben.

Eine Kolumne von Melanie Staudinger

München spielt überall in der ersten Liga. Nirgendwo sonst lässt es sich so schön leben, so lukrativ arbeiten und so ausgelassen feiern wie hier. Schon die Auswahl an Kneipen ist so groß, dass man nicht weiß, wohin: einen Kir Royal im Night Club des Bayerischen Hofes für 15,80 Euro schlürfen, sich auf dem Teppichboden des Café Cosmos mit einem Astra in die Studentenzeit zurückträumen, oder bei schallender Musik im M. C. Mueller ein Bio-Bier zum Stenz-Burger genießen?

Dem Ausgehbereiten steht die weite Welt der Bars offen. Er darf seine Pläne nur nicht spontan umsetzen wollen. Denn in München grassiert eine Krankheit, die recht ansteckend zu sein scheint: der Reservierungswahn. Infizierte Menschen wissen sehr früh sehr genau, wo sie was wann mit wem unternehmen möchten. Der Virus verleitet die Bemitleidenswerten bisweilen sogar, sich einen der letzten freien Barhocker zu reservieren.

Spießig, albern, unflexibel? Wer über so etwas lacht, sollte sich vorsehen: Verweigerer der frühzeitigen Abendplanung müssen nämlich oft draußen bleiben. Es ist unmöglich geworden, einfach nach der Arbeit spontan ein Bier zu trinken. Man bekommt nirgends einen Tisch, schon gar nicht, wenn es regnet und die Biergärten geschlossen sind. Verstärkt wird das Platzproblem noch durch den Trend hin zum gemeinsamen Fernseherlebnis: Tatort, Eurovision-Songcontest, Fußball - und natürlich reservieren alle fleißig.

Nur vereinzelt gibt es noch kleine Oasen wie das Café Fortuna in Haidhausen, dessen Gäste dem fiesen Wahn bisher widerstehen (zu ihrem Glück, denn Heilmittel existieren nicht). So bleibt letztlich nur die Einsicht, dass vorheriges Platzanmelden vielleicht doch keine Krankheit ist, die zum vollendeten Spießertum führt, sondern nur das notwendige Übel für einen entspannten Kneipenabend.

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Quelle:
SZ vom 23.05.2013/afis
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