Süddeutsche Zeitung

Szenario:Literatur, die wirkt wie Hefe

Die Stadt vergibt ihren Übersetzungspreis an Agnes Relle und den Literaturpreis an Christine Wunnicke

Von Antje Weber

Was geschieht, wenn das Rampenlicht auf zwei Menschen scheint, die das nicht gewohnt sind - oder gar nicht wollen? Es kann sich, auf wundersame Weise, zu einem besonders schönen Fest fügen. Gleich zwei große Preise der Stadt München sind am Freitagabend im Literaturhaus zu vergeben: der Übersetzungspreis 2021 an Agnes Relle und pandemiebedingt verspätet der Literaturpreis 2020 an Christine Wunnicke. Übersetzer stünden in der Wahrnehmung "oft eher abseits", sagt Stadtrat Jörg Hoffmann in Vertretung des Oberbürgermeisters; Schriftsteller stehen zwar häufiger im Rampenlicht - Wunnicke jedoch gehört zum seltenen Typus, der öffentliche Auftritte meidet.

Die Laudatio von Kulturwissenschaftlerin Katharina Teutsch will denn auch "keine grellen Scheinwerfer" auf Christine Wunnicke richten. Dennoch fällt wiederholt das Wort "geflasht" - ausgehend von Wunnicke selbst, die einmal gesagt hat, sie wisse meist nicht, warum sie etwas interessiere: "Ich bin irgendwie geflasht." Geflasht ist auch Teutsch von Wunnickes Werken, ob "Katie" oder "Die Dame mit der bemalten Hand", in denen es zwar vordergründig viel um Wissen und Wissenschaft gehe, letztlich jedoch um "das monströse Feld des Nicht-Wissens", um den "Kampf zwischen Gefühl und Genauigkeit". Wunnicke dankt, ja, "geflasht" für den Preis und widerlegt anschließend die eigene Behauptung, sie könne "wirklich nicht gut öffentlich sprechen", mit einer sehr lustigen Rede. Sie liest aus einem ihrer frühen Bücher über den Kastraten Filippo Balatri vor, der sich 1725 über die Münchner ausließ: "Alles Zartfühlende ist ihnen zuwider", befand er, sie äßen viel und tränken "unerbittlich", kurzum: "Ich befand mich in Bayern auf dem Gipfel meiner Glückseligkeit."

Ernster wird es beim Preis für Agnes Relle, Übersetzerin aus dem Ungarischen. Zwar beginnt die Laudatio der Schriftstellerin Noémi Kiss mit einem Lob der Sportlichkeit und Schnelligkeit dieser stets aktiven und optimistischen Frau: "Auf der Autobahn des Übersetzens fährt sie im siebten Gang" - denn davon, dass sie wegen einer MS-Krankheit im Rollstuhl sitzt, lässt sich Relle in ihrem Engagement nicht bremsen. Deutlich wird sowohl bei Kiss wie in der Dankesrede von Relle jedoch auch, wie schwierig und wie wichtig der Brückenschlag gerade nach Ungarn ist. "Europa ist geteilt, vielleicht mehr denn je", sagt Kiss. Relle sieht ihr "geliebtes Ungarn" vor dem Abgrund stehen, "auf direktem Weg in eine Diktatur". Sie beschwört die Kraft der Literatur für jede Heilung: Literatur sei die "Denkwerkstatt" jeder Gesellschaft, die "Hefe jeder Entwicklung".

Nach diesem Wechselbad der Gefühle kommt der Hefe auch an diesem Abend eine wichtige Rolle zu. Hefe, Hopfen, Häppchen - noch lange vertiefen sich die Gäste beim Empfang in Gespräche; unerbittlich trinkend, glückselig.

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Quelle:
SZ vom 04.10.2021
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