SZenario:Avantgardist der Kirche

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Ein Mutmacher für eine gebeutelte Kirche: Andrea Riccardi (links) im Gespräch mit Kardinal Reinhard Marx. (Foto: Stephan Rumpf)

Der Friedensstifter Andrea Riccardi von der katholischen Laiengemeinschaft Sant'Egidio wird bei seiner Buchvorstellung ausgiebig gepriesen

Von Bernd Kastner, München

Die Zukunft ist zu Gast in München. Sie ist gekommen in die prächtige katholische Herz-Jesu-Kirche in Neuhausen. Die Zukunft ist vor kurzem 70 geworden, aber was sagt das Alter schon. "Alles kann sich ändern", steht auf einer Leinwand, da, wo sonst der Priester sein Werk tut. Es ist der Titel des jüngsten Buches von Andrea Riccardi. 1968 hat er im römischen Stadtteil Trastevere die katholische Laiengemeinschaft Sant'Egidio gegründet. Seither baut er an der Kirche der Zukunft, wie sie sich nicht nur Reinhard Marx wünscht. Neben dem Kardinal sind auch die ehemalige Bundesministerin und Botschafterin im Vatikan, Annette Schavan, und der frühere evangelische Landesbischof von Berlin, Markus Dröge, gekommen, um die große Idee eines großen Mannes zu lobpreisen.

Der Italiener Riccardi ist Professor für die Geschichte des Christentums und für Zeitgeschichte, bekannt aber wurde er als Friedensstifter. Er und Sant'Egidio haben in zahlreichen internationalen Konflikten vermittelt, oft mit Erfolg, wie 1992 in Mosambik, nach 15 Jahren Bürgerkrieg. Manche nennen Sant'Egidio die "Uno von Trastevere". Ihre 70 000 Mitglieder in 70 Ländern - in Deutschland haben sie ihren Hauptsitz in München -, widmen sich im Alltag vor allem den Armen und Kranken. So hat Riccardi Ende der 60er-Jahre auch angefangen, als er mit Gleichgesinnten auf dem Motorroller in die Vororte von Rom gefahren ist, Welten entfernt von der vatikanischen Pracht, und sich um jene gekümmert hat, die ganz unten waren.

Grundlage für Sant'Egidio sind das Evangelium und die christliche Spiritualität. Das muss man wissen, um keine falschen Erwartungen an diesen Abend zu haben. Die Buch-Rezensenten sind eher Laudatoren und beschäftigen sich weniger mit politischen als mit kirchlichen Aspekten. Wenn Marx von "Volk Gottes" und "Zeugnis Jesu" spricht, erinnert das an eine Predigt. "Die Kirche der Zukunft", sagt er, sei eine, "die Aktion und Kontemplation verbindet". Wie es Riccardi tue, der eine "Inklusions-Theologie" vorlebe, in der Behütete und Obdachlose ihren Platz haben. Annette Schavan beschreibt die Gemeinschaft als eine, in der die Menschen schon etwas tun, während die anderen erst noch reden. Sant'Egidio sei "Avantgarde", die alle "kirchliche Larmoyanz" ob fehlender Priester und sinkender Mitgliederzahlen beiseitelasse. Walter Dröge ist es, der am politischsten wird, wenn er eine "Zeitanalyse" auf Basis des Riccardi-Buchs skizziert. Warum gibt es trotz des Kriegs in Syrien keine großen Friedensdemonstrationen? Weil sich die Maßstäbe verschoben hätten. Weil viele Menschen nicht mehr mit den Opfern fühlten, sondern Angst vor ihnen schürten, wenn sie als Flüchtlinge kommen. Zu viele hätten sich an den "Verlust der Menschlichkeit" gewöhnt. Riccardi setze dem ansteckende Zuversicht entgegen.

Der so Gepriesene gibt sich, was seine Person betrifft, bescheiden. Das gilt nicht unbedingt für seine Vision des Christentums. Dieses sei für ihn die Zukunft Europas, ja, der Welt. Was missionarisch klingen mag, relativiert sich, wenn man bedenkt, was er unter Christentum versteht. Eines, das auf andere Religionen zugeht, eines, das Frieden nicht nur predigt, sondern ihn schafft. Und so agiert Riccardi als Mutmacher einer gebeutelten Kirche: "Wir müssen", sagt er, "die Begeisterung wieder freisetzen!"

© SZ vom 31.01.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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