Süddeutsche Zeitung

Volontariat bei der SZ:"Man konnte die Miete zahlen und sich von Brezen ernähren"

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Christian Ude volontierte von 1967-1969 bei der SZ, Francesca Polistina seit 2019. Über die Ausbildung damals und heute, die Chancen für Menschen mit Migrationshintergrund und warum der spätere Münchner OB die Zeitung verließ.

Interview von Detlef Esslinger

Ein Tag in diesem Sommer, eine Verabredung mit Christian Ude um elf Uhr - wer nicht kommt, weil er's vergessen hat, ist Christian Ude. Aber dann ist er innerhalb einer Dreiviertelstunde da, und man einigt sich schnell, wer Schuld an dem Versäumnis hat: die SZ. Ude, heute 72, wurde 1967 Volontär dieses Blattes. Er weiß noch genau, dass es damals in München überhaupt nicht nötig war, zur angegebenen Zeit bei einer Pressekonferenz zu sein. Denn die fing eh erst an, wenn der Vertreter (sehr selten: die Vertreterin) der SZ eingetroffen war. Wie sollte man da Pünktlichkeit lernen? Mit dieser Art von Ehrfurcht ist es seit Längerem vorbei, Francesca Polistina, 33, absolviert seit November 2019 ihr Volontariat; jedenfalls hat sie derlei noch bei keiner SPD und keinem Kunstverein erlebt. Und ihr Vertrag regelt auch deutlich mehr als jener damals von Ude. Der beschränkte sich im Wesentlichen auf die Zusicherung: "Die Redakteure werden bemüht sein, Ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen." Was sich sonst noch geändert hat, berichten die beiden hier.

SZ: Herr Ude, wie sind Sie Volontär bei der SZ geworden? Haben Sie sich ordentlich beworben, mit Anschreiben, Zeugnissen und Lebenslauf?

Christian Ude: Ich nahm einen Umweg, der sich als Abkürzung erwies. Ich hatte mich an der Deutschen Journalistenschule, der DJS, beworben. Das Thema für die Übungsreportage war: "Mein Postamt". Die meisten schrieben sterbenslangweilige Texte, wohingegen ich das Glück hatte, dass auf unser Postamt, in der Schwabinger Agnesstraße, während meiner Kindheit ein Terroranschlag von Exil-Serben ausgeführt worden war. Mit einer Briefbombe, so dass die ganze Schalterhalle in die Luft flog. Ich hatte es knallen gehört, bin hin und blieb solange, bis die Polizei den Bau räumte. Das war natürlich die mit Abstand spannendste Reportage, die einer über sein Postamt schreiben konnte. In der Prüfungskommission der Journalistenschule saß der stellvertretende Chefredakteur der SZ, Hugo Deiring...

Dass da schon der Nachfolger zuschaut, ahnte damals keiner: SZ-Volontär Christian Ude (Mitte) beobachtet den Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel (rechts) bei einem Termin mit Juso-Vertretern im Rathaus. (Foto: Fritz Neuwirth/Stadtarchiv)

Ude als Faschingsreporter im Haus der Kunst. (Foto: Fritz Neuwirth)

In der Lokalredaktion, Mai 1969 (Foto: Fritz Neuwirth).

...der intern jahrzehntelang eine Berühmtheit war...

Ude: ...mehr gefürchtet als geschätzt, aber eine Respektperson.

U-Boot-Kommandant im Zweiten Weltkrieg.

Ude: Auf die Art herrschte er auch in der SZ. Er bot mir dann per Brief an, ich könne auch unter Weglassung der DJS gleich als Volontär beginnen.

Francesca Polistina: Für zwei Jahre, so wie heute?

Ude: Zunächst, ja. Von Herbst 67 bis Herbst 69. Und dann hatte ich ein weiteres, geradezu obszönes Glück. Ich sagte, dass ich für irgendwas zuständig sein will.

Als Volontär? Heute durchläuft man neun Ressorts und hat einen Mentor oder eine Mentorin, Zuständigkeiten kriegt man erst später, als Redakteur.

Ude: Zu mir haben sie gesagt: Dann kriegen Sie halt Schule und Hochschule. Kaum war das unterschrieben, gingen am 1. September die Studentenunruhen los. Und ich hab praktisch täglich zwei Zweispalter geschrieben. Über Unruhen, über Teach-ins, über Besetzungen von Senatssitzungen, und so weiter. Nach gut einem Jahr haben sie mich gefragt, ob ich nicht Jungredakteur werden wolle. Damit erhöhte sich mein Gehalt von 371 Mark netto auf 789 Mark im Monat. Davon konnte man wenigstens die Miete zahlen und sich von Brezen ernähren.

Die SZ galt damals als geizig.

Polistina: Aber die Stadt war wenigstens nicht so teuer wie jetzt.

Ude: Die Gewaltigen der Süddeutschen haben es ganz frech verteidigt, dass das Gehalt nicht zum Leben reicht. Einmal bin ich dem Generaldirektor Dürrmeier im Paternoster begegnet. Ich zu ihm: "Haben Sie wirklich ein gutes Gefühl, wenn Sie Ihre jungen Mitarbeiter derart schlecht bezahlen?" Worauf es eine filmreife Szene gab. Unterm Arm hatte er eine Wochenendausgabe. Die teilte er: die ersten vier Lagen in die eine Hand, 80 Seiten Anzeigen in die andere. Dann sagte er: "Junger Freund" - immer verdächtig übrigens, wenn ein Verleger von Freunden spricht. "Junger Freund, sehen Sie, damit" - das war der Anzeigenteil - "verdienen wir unser Geld." Dann zeigte er die anderen Teile, Politik, Feuilleton, Wirtschaft, Lokales. Er fuhr fort: "Und dafür geben wir all unser Geld aus." So hat er Zeitung gesehen: Eigentlich lohnt sich nur der Anzeigenteil. Und Redakteure kosten nur unsinniges Geld, das man lieber nicht verprassen will.

Das sind die Geschichten, die man sich hier auch von damals erzählt.

Ude: Später hatten wir noch eine Begegnung, da war ich schon Jungredakteur. Da sagte er: Was wir zahlen, ist doch nur die Existenzgrundlage für Sie. Aber wenn Sie bei einem dermaßen angesehenen, berühmten Blatt arbeiten, können Sie doch nebenbei Funksendungen machen und Bücher schreiben. Und davon leben unsere Leute.

Bitte?

Ude: Oder man hat nebenbei für die Deutsche Presse-Agentur (dpa) gearbeitet. Ich habe meinen Zweispalter für die SZ geschrieben und gleich darauf die Kurzfassung für dpa.

Am SZ-Schreibtisch? Mit SZ-Betriebsmitteln?

Ude: Natürlich.

Das wäre nicht der Humor der heutigen Chefredaktion.

Ude: Damals war es das Argument, dass das Gehalt gar nicht so schlecht ist, wie es aussieht.

Heute gibt es 2059 Euro im ersten und 2372 Euro im zweiten Jahr.

Ude: Als Volontärin? Ist ja gewaltig.

Polistina: Davon bleiben circa 1500 Euro, und genauso hoch ist die Miete für die Drei-Zimmer-Wohnung unserer Familie. Es zeichnet sich ab, dass die Bezahlung ein Problem für den Journalismus wird. Man fängt mit viel Begeisterung und Idealismus an, aber von Idealismus kann keiner leben, erst recht nicht, wenn man eine Familie gründet. Dann kommt die harte Realität.

Warum wollten Sie zur SZ?

Polistina: Ich bin Italienerin, auch in Italien aufgewachsen. Mein Leben in Deutschland habe ich in München begonnen, mit 19, im Olympiadorf, in einem der Bungalows dort.

Ude: Ah, im Frauendorf.

Polistina: Nee, gemischt.

Ude: 1972 war dies das Olympische Frauendorf.

Polistina: Ah, okay. Ich kam 2006 für ein Studienjahr hierher. Und dann ist die SZ natürlich die erste Zeitung, die man kennenlernt. Sie ist eine der wenigen Zeitungen in Deutschland, bei denen ich von Qualitätsjournalismus sprechen würde.

Warum wollten Sie Journalistin werden?

Polistina: Das wollte ich schon mit 15 oder 16. Man kann viel sehen, erleben und mit Menschen sprechen. Man geht vielleicht nicht so in die Tiefe wie jemand, der sein Leben lang Experte für etwas ist. Dafür ist die Breite so immens.

Und warum wollten Sie es in Deutschland werden statt in Italien?

Polistina: Na ja, schon in Deutschland ist die Branche schwierig. In Italien habe ich es zwei Jahre lang versucht, als freie Mitarbeiterin der Tageszeitung Corriere del Trentino. Das Abc des Journalismus habe ich dort gelernt, aber ich konnte von dem Geld dort nicht leben. Und man kann sich auch gar nicht für ein Volontariat bewerben. Das wird einem angeboten, nachdem man fünf oder zehn Jahre mitgearbeitet hat. Außerdem hatte ich Lust, nochmal ins Ausland zu gehen. Also bin ich zurück nach Deutschland. Zuerst habe ich etwas anderes gemacht, in einer Firma für Medienanalyse in Köln gearbeitet. Ich musste ja die Sprache weiter lernen.

Das ist eine unfassbare Leistung: mit einer fremden Sprache als Werkzeug der täglichen Arbeit klarzukommen.

Ude: Und wie.

Polistina: Sagen wir mal so, es ist jeden Tag ein kleiner Kampf. Das Lustige ist, eine kleine Meldung über einen Autounfall, die für die meisten Kolleginnen und Kollegen ganz leicht ist, ist für mich viel schwieriger als ein politischer Text. Weil man da mit der Sprache nicht spielen kann, sondern ganz präzise formulieren muss.

Und Sie bekamen auch keine Einladung vom stellvertretenden Chefredakteur wie damals Herr Ude, sondern Sie mussten zum Vorstellungsgespräch. Waren wir sehr streng?

Polistina: Ich war so aufgeregt. Auf der Fahrt hierher im Auto haben mein Freund und ich geprobt, was antworte ich auf die typischen Fragen: Wo sehen Sie sich in fünf Jahren? Was gefällt Ihnen an der SZ? Zum ersten Mal in diesem großen Haus. Ich dachte, das kann nicht funktionieren. Wegen der Sprache. Das werden die merken. Man sieht in den Medien ja niemals Journalistinnen und Journalisten, die einen Akzent haben. Man trifft fast nur Menschen, die deutsche Nachnamen haben, wie Kister und Esslinger.

Dabei suchen wir ausdrücklich nach jungen Menschen, denen man schon an Vor und Nachnamen anmerkt, dass ihre Vorfahren nicht schon seit 500 Jahren hier sind.

Polistina: Aber das weiß man ja vorher nicht. Ich dachte mir, versuch's einfach mal, im schlimmsten Fall hab ich den Chefredakteur der SZ für eine Stunde kennengelernt.

Ude: Zu meiner Zeit gab es nicht nur keine Menschen mit Migrationshintergrund. Die Zusammensetzung war noch viel schmaler. Bei allen Volontären wusste man, dass die Eltern auch Journalisten waren, wie bei mir. Eindringlinge aus anderen Milieus gab es so gut wie nicht. Auf die Idee, dass Kinder von Gastarbeitern gleich Redakteur würden, kam in den Sechzigerjahren kein Mensch, nicht einmal ein Interessenvertreter der Gastarbeiter.

Polistina: Trotzdem kann ich verstehen, dass auch heute noch vor allem Akademikerkinder in unseren Beruf wollen. Weil sie sich das erlauben können. Man muss ganz viele schlecht bezahlte Praktika machen, bevor man überhaupt Zugang findet zu einer Redaktion. Und dann ist es unsicher, ob man hineinkommt. Junge Menschen aus ärmeren Schichten suchen sich lieber etwas, das sicherer ist als die Perspektive Journalismus.

Herr Ude, haben Sie als Volontär nur geschrieben, oder wurden Sie auch ausgebildet?

Ude: Ich war ja dieses Jahr schon mal hier im SZ-Hochhaus, als Sparringspartner für Interviews in der Ausbildung. So etwas gab es überhaupt nicht. Es gab einen Handschlag des Ressortchefs, der wies einem einen Schreibtisch zu und sagte: Mach mal. Wie es nicht geht und wie man es machen soll, habe ich dann gelernt im Gespräch über den fertigen Text. Da hieß es dann, Sie können doch nicht mitten in der Nachricht zu kommentieren anfangen.

Wie viele Ressorts lernten Sie kennen?

Ude: Kennengelernt wäre zu viel gesagt. Ich habe vielleicht insgesamt zehn Stücke im Feuilleton, im Bayernteil und eins auf der Seite Drei geschrieben, über ein rechtsradikales Anzeigenblatt. Aber nie etwas im Wirtschaftsteil. Meine Gespräche mit dem damaligen Wirtschaftschef Franz Thoma spielten sich entweder im Paternoster oder auf der Herrentoilette ab. Mit Joachim Kaiser...

...dem legendären Kritiker...

Ude: ... hatte ich Kontakt, weil ich von ihm nur durch eine dünne Holzwand getrennt war. Ich war im letzten Zimmer der Lokalredaktion, und er im ersten des Feuilletons. Wenn er seine Musikkritiken diktiert hat, habe ich alles mitbekommen. Das habe ich später dem Helmut Fischer erzählt, es wurde dann eine Szene in "Monaco Franze" daraus. Der Monaco Franze, ein völlig opernfremder Mensch, bekommt mit, wie der Kritiker die Opernkritik diktiert, die morgen in der Zeitung steht. Und der Monaco Franze macht dasselbe wie ich als Volontär: Tritt als Klugscheißer auf und sagt über die Oper genau das, was am nächsten Tag vom großartigen Joachim Kaiser zu lesen ist.

Polistina: Haben Sie Ihre Stücke auch diktiert, oder mussten Sie selber schreiben?

Ude: Ich? Musste alles selber hacken. Nur Joachim Kaiser durfte mit fröhlichem Singsang durchs Zimmer schreiten und seiner Sekretärin diktieren.

Waren Sie im Sport?

Ude: Nie! Dort wäre ich eine absolute Fehlbesetzung gewesen.

Als OB inszenierten Sie sich immerhin als Fan von 1860.

Ude: Ich war nie ein richtiger Fußballfan. Ich war nur deshalb für 1860, weil das zu meiner Schulzeit eine Modewelle war. Sie waren ja einmal deutscher Meister, 1966, und der Torwart Radenkovic hat mich als Typ fasziniert. Später hat sich die 1860-Liebe dadurch entwickelt, dass ich die Arroganz der Bayern schlecht vertragen habe. Ich war deren Opposition. Und als anständiger Sozialdemokrat hält man sowieso zu den Schwächeren. Und die Sechzger sind ja dann auch immer schwächer geworden.

Heute durchlaufen unsere Volos acht, neun Ressorts. Wie finden Sie das, Frau Polistina?

Polistina: Es hat Vorteile und Nachteile. Man lernt sehr viele Menschen kennen und hat dadurch auch mehr Kontakte, wenn es nach dem Volontariat ums Bleiben geht. Andererseits fängt man wirklich alle zwei, drei Monate bei null an. Das ist sehr stressig. Neue Themen, neue Telefonnummern. Ich war vier Monate in Freising. Da fing ich gerade an, ein bisschen die Stadt zu verstehen und den Oberbürgermeister zu kennen. Und schon muss man wieder weg. Jetzt bin ich in der Außenpolitik, da mache ich viel am Desk und per Telefon. Theoretisch könnte ich auch in Köln oder im Piemont sitzen, man würde es meiner Arbeit nicht unbedingt anmerken. Für die Recherchen am Ort gibt es die vielen Korrespondenten. In Freising hingegen geht man viel raus auf Termine.

Was ist das Besondere am Lokaljournalismus?

Ude: Mein Lokalchef war Bernhard Pollak, der übrigens als Jude im Dritten Reich verfolgt worden war. Er sagte mir: Christian, im Feuilleton können Sie Opern in Mailand verreißen. Das interessiert die dortigen Intendanten überhaupt nicht. Aber im Rathaus dürfen Sie nicht einmal den Namen eines Stadtrats falsch schreiben, oder er verfolgt Sie mit seinem Hass. Lassen Sie die anderen stolz sein, dass sie an die Scala oder zu den Vereinten Nationen dürfen. Stimmen muss es bei den kleinen Dingen. Und man muss bis zum Ende in der Veranstaltung bleiben, sonst merken das auch alle.

Polistina: Das sollte man immer, nicht nur im Lokalen.

Ude: Da haben Sie völlig recht. Aber die soziale Kontrolle ist im Lokalen viel größer als bei Opern am anderen Ende der Welt.

Polistina: Mir hat ein Lokalredakteur erzählt, dass er über jemanden schrieb, den er dann am Abend im Supermarkt getroffen hat. Das war ein Grund, dass ich froh war, wenn ich abends von Freising heim nach München gefahren bin.

Herr Ude, wann haben Sie den Journalismus verlassen?

Ude: Nie! Es war nur nicht immer mein Hauptberuf. Ich hatte schon mit zehn Jahren beschlossen, Oberbürgermeister zu werden.

Aber immerhin die SZ haben Sie verlassen, 1969.

Ude: Und wissen Sie, warum? Das war meine Reaktion auf das Angebot, Ressortleiter zu werden. Für die Hochschul-Sonderseite. Da wusste ich, wenn ich jetzt nicht davonlaufe, kann ich es vergessen, jemals Jura zu studieren. Ich hab dann aber während des Studiums für norddeutsche Zeitungen aus Bayern berichtet und eine SPD-Zeitung gegründet, die Münchner Post. Während meiner OB-Zeit war ich Kolumnist für drei, vier Zeitungen, die meisten in München, eine in China. Auch als Ruheständler bin ich journalistisch tätig. Für mich ist ein Vorgang im Bewusstsein immer erst dann passiert, wenn es einen Zeitungsbericht darüber gibt.

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Quelle:
SZ vom 11.08.2020
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