SZ-Streitgespräch (3):"Irrsinnige Bürokratie"

Die Münchner Bundestagskandidaten Claudia Tausend (SPD) und Rainer Stinner (FDP) streiten über Konjunkturpakete, die Folgen der Arbeitslosigkeit und den Kasinokapitalismus.

J. Bielicki, B. Neff

Claudia Tausend Die gebürtige Niederbayerin Claudia Tausend gilt als eine der zentralen Figuren der Münchner SPD. Die 45-jährige Wirtschaftsgeographin ist stellvertretende Vorsitzende sowohl ihrer Partei in München und Oberbayern als auch der sozialdemokratischen Rathausfraktion, als deren Sprecherin für Stadtplanung sie ebenfalls auftritt. Die Bayern-SPD hat die Direktkandidatin aus dem Münchner Osten allerdings nur auf den wackeligen Listenplatz 22 gesetzt.

SZ-Streitgespräch (3): Rainer Stinner und Claudia Tausend beim Streitgespräch.

Rainer Stinner und Claudia Tausend beim Streitgespräch.

(Foto: Foto: Rumpf)

Rainer Stinner

In Bremen vor 62 Jahren geboren, kam Rainer Stinner zum Studium nach München. Der Betriebswirt baute eine eigene Firma für Unternehmensberatung auf, die er später an eine internationale Beratungsgesellschaft verkaufte. Für die FDP trat er 1999 bei der Münchner OB-Wahl an. Seit 2004 steht er der Münchner FDP vor. Auf Platz drei der liberalen Landesliste platziert, hat er beste Chancen, seinen 2002 errungen Sitz im Bundestag zu behalten.

SZ: Sind Sie zufrieden damit, wie die große Koalition die Krise behandelt?

Rainer Stinner: Die SPD stellt ja bereits seit elf Jahren den Finanzminister. Und wo stehen wir nach diesen elf Jahren? Wir haben eine Verschuldung ungeheuren Ausmaßes. Außerdem hat die SPD ein Kernproblem: Sie weiß nicht, ob sie auf die Reformen der Agenda 2010 stolz sein oder sie verdammen soll. Die SPD ist weit hinter das zurückgefallen, was sie mit der Agenda 2010 intendiert hat. Deshalb sind wir mit dieser Regierungspolitik nicht zufrieden.

Claudia Tausend: Ich darf daran erinnern, dass die SPD seit 1998 nicht allein regiert hat. Die Staatsverschuldung nehme ich sehr ernst, aber sie ist Folge von weltweiten Wirtschaftskrisen. Bei der Agenda 2010 gibt es sehr wohl positive Aspekte. Das Zusammenführen von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe hat Bürokratie eingedämmt, und die Hilfe kommt zielgenauer an. Eine andere Frage ist, wie lange ein Arbeitsloser Arbeitslosengeld I bezieht. Die Münchner SPD hat immer die Haltung vertreten, dass jemand, der 20 Jahre gearbeitet hat, nicht gleichbehandelt werden kann wie jemand, der nie gearbeitet hat. Auch beim Schonvermögen müssen wir nacharbeiten.

Stinner: Beim Schonvermögen sind wir uns einig. Auch wir wollen es erhöhen. Das Arbeitslosengeld dagegen dürfen Sie nicht isoliert betrachten. Unser Anliegen ist, die Dynamik des Arbeitsmarktes dramatisch zu erhöhen. Uns geht es doch nicht darum, die Leute möglichst lange am Tropf des staatlichen Subventionswesens zu halten. Die wesentliche Aufgabe des Staates ist es, die Leute in die Lage zu versetzen, möglichst schnell wieder Arbeit zu bekommen.

Tausend: Deshalb sehen wir mit großer Sorge die Auseinandersetzung um die vom Bundesverfassungsgericht geforderte Reorganisation der Jobcenter. Aber die Union mag sich nicht bewegen, und die Leidtragenden sind die Arbeitslosen.

Stinner: Wir wollen die Arbeitsvermittlung in die Hände der Kommunen geben. Die Städte können sich besser um Arbeitslose kümmern. Wir wollen auch die Bundesanstalt für Arbeit in ihrer bisherigen Form auflösen.

Tausend: Wir waren nie begeistert über Vorschläge, die Langzeitarbeitslosigkeit zu kommunalisieren. Denn zuerst muss die Frage beantwortet werden: Wer bezahlt? Ich befürchte, dass bei solcher Umorganisation immer Leistungseinschränkungen dabei sein werden.

Stinner: Wir halten es für sinnvoll, dass die finanziellen Beziehungen zwischen Bürger und Staat nur über eine einzige Institution laufen, und zwar das Finanzamt. Die Bürger, die genügend Einkommen haben, müssen Steuern zahlen. Diejenigen, die dem Finanzamt nachweisen, dass sie nicht genügend Einkommen haben, bekommen über das Finanzamt ein sogenanntes Bürgergeld von 662 Euro gezahlt, das die heutigen Hartz-IV-Zahlungen ersetzt. Und das würde alles sehr viel einfacher machen.

Tausend: Das Schöne an der FDP ist, dass ihre Vorschläge so bestechend einfach klingen. Aber wenn man ins Detail geht, ist die Wirklichkeit sehr viel komplizierter. Vieles, was einfacher wird, wird eben oft ungerechter. Ein Langzeitarbeitsloser bekommt heute 359 Euro plus die Kosten der Unterkunft. Zusammen ist das im teuren München weitaus mehr als Ihr Bürgergeld. Ihr Konzept würde also die Leistungen für Münchner Hartz-IV-Empfänger stark einschränken. Es würde bei 25 Milliarden Mehrkosten auch nicht finanzierbar sein.

Stinner: Hier kommen wir zum grundsätzlichen Unterschied zwischen unseren politischen Philosophien. Sie verheddern sich, weil Sie glauben, jede einzelne Lebenslage regeln zu müssen.

"Es wäre besser, Bürger und Unternehmer zu entlasten"

SZ: Nun nützt die beste Arbeitsvermittlung nichts, wenn in der Krise keine Jobs da sind. Wo sollen sie denn herkommen?

Tausend: Frank-Walter Steinmeier hat ja den Deutschland-Plan der SPD vorgelegt. Der ist natürlich kein Patentrezept, sondern bietet Weichenstellungen an, wie in der Industrie, im Gesundheitswesen und in der Kreativwirtschaft neue Arbeitsplätze entstehen können.

Stinner: Dieser sogenannte Plan ist doch eine reine Beschreibung dessen, was schön wäre. Ich fände es auch fabelhaft, wenn mehr Arbeitsplätze entstehen. Nur steht in dem Plan null darüber drin, wie das gehen soll. Wir haben dagegen unser Angebot: Wir wollen nicht weitere Konjunkturprogramme auflegen, sondern lieber Bürgern und Unternehmen mehr Geld lassen, weil sie in der Summe bessere Entscheidungen treffen als der Staat. Die Abwrackprämie ist so ein Beispiel: Für fünf Milliarden Euro wird ein Strohfeuer entfacht. Es ist doch volkswirtschaftlich völliger Unsinn, funktionsfähige Autos zu verschrotten.

Tausend: Das Konjunkturprogramm der Bundesregierung trägt die Handschrift der SPD. Mit seiner Hilfe ist es gelungen, den dramatischen Konjunktureinbruch abzufedern. Dazu hat auch die Abwrackprämie beigetragen, die wir eleganter Umweltprämie nennen ...

Stinner: Und wie schaut es da mit der Umweltbilanz aus?

Tausend: Wenn man den Aufwand betrachtet, der nötig ist, ein Auto zu bauen, ist die Umweltbilanz wohl nicht positiv. Es ging darum, den gewaltigen Einbruch auf dem Automarkt abzufedern, und das hat funktioniert. Im Übrigen hat das Konjunkturpaket die Bürger entlastet, Sozialversicherungsbeiträge und Steuern gesenkt. Die Kommunen haben Geld bekommen für die Sanierung von Schulen und Kindertagesstätten. Damit hat der Staat Arbeitsplätze gesichert und Werte geschaffen für zukünftige Generationen.

Stinner: Wie viel von dem Geld hat denn München schon ausgegeben?

Tausend: Relativ wenig - wegen des umständlichen Auszahlungsverfahrens, das sich der Freistaat ausgedacht hat. Und dort regiert die FDP mit.

Stinner: Das zeigt, dass solche staatlichen Anschubprogramme häufig eine irrsinnige Bürokratie nach sich ziehen, sogar wenn die brillantesten Parteien an deren Durchführung beteiligt sind. Unsere Parteien haben eben grundsätzlich verschiedene Ansätze dazu, wie der Staat in das gesellschaftliche Handeln der Bürger eingreifen soll.

Tausend: Eindeutig!

Stinner: Wir meinen, es wäre besser gewesen, Bürger und Unternehmen zu entlasten, weil sie kurzfristig die wirtschaftlich nötigen Entscheidungen treffen.

Tausend: Und wir glauben, dass es wichtig war, die Wirtschaft zu stabilisieren, die Beschäftigung zu sichern, um die Auswirkungen der Finanzkrise auf Arbeitsmarkt und Konjunktur abzufedern.

"Der Kasinokapitalismus ist ein internationales Problem"

SZ: Wäre dennoch eine Koalition zwischen Ihren Parteien denkbar?

Tausend: In der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik sind die Gemeinsamkeiten zwischen uns und der FDP sehr überschaubar bis nicht vorhanden. Im Bereich der bürgerlichen Freiheiten ist das anders. Ich könnte mir durchaus ein liberal geführtes Justiz- oder Innenministerium vorstellen.

Stinner: Für mich gibt es nur zwei Möglichkeiten. Entweder schaffen es Union und FDP, eine Mehrheit im Bundestag zu erringen. Dann müssen sie miteinander koalieren. Oder sie schaffen es nicht, dann wird die große Koalition verlängert. Ich glaube der SPD, dass sie 2009 auf Bundesebene noch keine Koalition mit der Linken eingehen wird. Aber das könnte 2010 oder 2011 schon ganz anders sein. Aber die Ampel aus SPD, FDP und Grünen wird es nicht geben.

Tausend: Die SPD strebt an, stärkste Fraktion zu werden und die Regierung zu bilden. Das setzt natürlich eine beachtliche Aufholjagd voraus. Wir würden gerne an der Regierung bleiben, denn gerade in diesen Zeiten der Krise braucht Deutschland die SPD. Schwarz-Gelb würde dem Land nicht guttun.

Stinner: Es gibt einen weiteren Unterschied zwischen uns. Wir glauben, dass die SPD eine falsche Politik macht. Das ist legitim. In der SPD dagegen gibt es viele, die uns Liberale als böse Menschen ansehen. Ich spreche keinem Sozialdemokraten ab, aus seiner Sicht das Gute für unser Land zu wollen. Ich habe aber das Gefühl, dass bei SPD und Grünen viele uns nicht zutrauen, das aus unserer Sicht Beste für unser Land zu wollen.

SZ:Frau Tausend, sind Herr Stinner und die Seinen böse Menschen?

Tausend: Nein. Ich habe bewusst in München ein SPD-Plakat nicht geklebt, das sogenannte Finanzhaie karikiert hat. Das ist ein Stil der politischen Auseinandersetzung, den manche witzig, manche aber beleidigend finden können. Wir müssen uns stattdessen über inhaltliche Unterschiede auseinandersetzen. Wenn die FDP glaubt, dass mehr Steuersenkungen automatisch zu mehr Wohlstand für alle führen und jeder staatliche Eingriff zu Dirigismus, ist das ein Gegenprogramm zu unseren Positionen.

Stinner: Natürlich hat der Staat auch für uns Liberale eine regulierende Funktion. Wer waren denn die bösen Buben, die den Staat daran gehindert haben, die Banken besser zu beaufsichtigen? Wir haben immer darauf hingewiesen, dass die Bankenaufsicht zu schwach ist.

Tausend: Schon in den achtziger Jahren wurden unter Reagan und Thatcher die Grundlagen dafür gelegt, dass die Finanzmärkte liberalisiert wurden und sich von den Realgütermärkten lösten.

Stinner: Und das haben SPD-Finanzminister in elf Jahren nicht gemerkt.

Tausend: Der Kasinokapitalismus ist ein internationales Problem. Wir brauchen internationale Finanzaufsicht ...

Stinner: Das steht so in unserem Wahlprogramm drin ...

Tausend: Freut mich, dass wir mal eine Gemeinsamkeit gefunden haben.

Stinner: An uns ist noch nie ein ordnungspolitischer Rahmen für die Marktwirtschaft gescheitert. Wir sind dafür, dass der Staat den Rahmen setzt. Aber wir sind dagegen, dass der Staat selber mitspielt, wie er das mit seinen Landesbanken gemacht hat.

Tausend: Wir glauben, dass wir nach zwanzig Jahren Ideologie von Liberalisierung, Deregulierung, Privatisierung an eine Grenze gekommen sind, wo wir umsteuern müssen, weil uns diese Rezepte in die Krise geführt haben.

"Wir fordern, die Gewerbesteuer abzuschaffen"

SZ: Was wird denn für München entscheidend sein?

Tausend: Zentral neben mehr Unterstützung für den sozialen Wohnungsbau ist für uns der Erhalt der Gewerbesteuer und der kommunalen Daseinsvorsorge.

Stinner: Wir fordern seit langem, die Gewerbesteuer abzuschaffen und durch einen Zuschlag auf die Einkommen- und Körperschaftsteuer zu ersetzen. Wenn der Herr Oberbürgermeister Ude unserem Modell gefolgt wäre, hätten wir jetzt in München nicht diesen verheerenden Einbruch bei der so stark konjunkturabhängigen Gewerbesteuer. Außerdem besteuert sie nicht nur den Gewinn, sondern geht auch in die Substanz von Unternehmen. Das ist doch unmöglich.

Tausend: Das geschieht, weil die Unternehmen mit allerlei Tricks Steuervermeidung betrieben haben. Die Gewerbesteuer abzuschaffen hieße, die Standortbindung von Unternehmen aufzulösen. Und zweitens würden Sie bei einer Abschaffung wieder die Lohnabhängigen und Einkommensteuerzahler belasten. Allein in München müssten Sie zwei Milliarden Euro kompensieren. Wo nehmen Sie denn das Geld her?

Stinner: Unser Modell wäre für die Gesamtheit der Kommunen aufkommensneutral. Dass vereinzelte Städte weniger bekommen, will ich gar nicht bestreiten.

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