Süddeutsche Zeitung

Gentrifizierung in München:Wenn der Bagger die Heimat frisst

Lesezeit: 5 min

Von Hubert Grundner

"Ich wohne immer Erhardtstraße 10", sagt Ömer Sakin und lächelt verlegen. In dem schief geratenen Satz schwingt etwas Irritierendes und zugleich Anrührendes mit. Hat doch der 69-Jährige gerade sinngemäß erklärt: Ich habe, seitdem ich 1969 nach München gekommen bin, ohne Unterbrechung mit meiner Frau Fatma im dritten Stock dieses Hauses gelebt. In dieser Zeit sind unsere zwei Kinder hier geboren worden. Doch jetzt ist endgültig Schluss. Wir müssen nach beinahe 50 Jahren unsere Wohnung räumen. Denn das an der Isar zwischen Fraunhofer- und Corneliusstraße liegende Gebäude wird abgerissen.

Raus aus der Wohnung, in den Urlaub - und wohin dann?

Nun kann Ömer Sakin - in gutem Deutsch - durchaus für sich selbst sprechen. Immerhin war er bis zur Rente 37 Jahre lang bei BMW als Maschinenarbeiter in der Endkontrolle angestellt. Doch die Anspannung der letzten Tage in gewohnter Umgebung, die Vorbereitung des Auszugs sind ihm und seiner Frau anzumerken.

Noch mehr hat ihnen aber die Ungewissheit zugesetzt, wie es weitergehen wird. "Wir haben noch keine Wohnung gefunden", erklärt das Ehepaar. Dabei hätten sie beinahe ein Jahr lang eine neue Bleibe gesucht. Nun haben sie eine Umzugsfirma damit beauftragt, ihren Hausrat abzuholen und einzulagern, und machen danach erst einmal Urlaub in der Türkei. Später wird der Vater bei der Tochter und die Mutter beim Sohn einziehen, die glücklicherweise in München eine Wohnung haben: "Uns bleibt keine andere Wahl."

Wenn die Heimat gegen eine Abfindung getauscht wird

So wie die Sakins haben auch die anderen vier Parteien im Haus keine wirkliche Wahl. Nach dem Tod ihres Vermieters verkauften die Erben das Anwesen Erhardtstraße 10 an die Euroboden GmbH. Der neue Eigentümer entschied sich für Abriss und Neubau. Er begründete dies, verkürzt dargestellt, zum einen mit dem maroden Zustand der Immobilie. Zum anderen sah er die Verkehrssicherheit, Stichwort Brandschutz, als nicht mehr gegeben an.

Vor allem aber soll "eine grobe Überprüfung" der Rückgebäude auf Kontaminationen zum Teil hohe Schadstoffbelastungen - Schwermetalle, Polyzyklische Aromatische Kohlenwasserstoffe, Mineralölkohlenwasserstoffe - ergeben haben. "Ursache der Vergiftungen könnte eine früher an Ort und Stelle betriebene Lackfabrik sein. Die Umstände lassen auch auf eine starke Kontamination des gesamten Grundstücks schließen", heißt es im Schreiben der Euroboden.

Darauf stützte die Grünwalder Firma eine Mietaufhebungs- und Räumungsvereinbarung: Für die Einwilligung, bis spätestens 31. Mai 2015 ihre Wohnungen zu verlassen, bekamen die Mieter im Gegenzug durchaus stattliche Abfindungen. Euroboden-Geschäftsführer Stefan Höglmaier sagt, man habe eine "einvernehmliche Lösung" zwischen allen Beteiligten gefunden.

Unerschwinglicher Wohnraum - auch für Normalverdiener

Gleichzeitig ist ihm bewusst, vor welche extremen Probleme der örtliche Mietmarkt inzwischen die meisten Menschen stellt. "Die Krux für uns als Stadtgesellschaft ist: Wenn wir die Stadtviertel attraktiver machen, löst das am Ende auch unerwünschte Gentrifizierungsprozesse aus." Anders formuliert: Da bebaubare Flächen knapp sind und die Nachfrage das Angebot weit übertrifft, explodieren die Preise, die Alt-Bewohner werden verdrängt.

Selbst Kunden aus der Mittelschicht, so Höglmaiers Beobachtung, stemmen den Kauf einer Immobilie oft nur noch mit Mühe. Wahrscheinlich werden auch die neuen Wohnungen an der Erhardtstraße für viele Normalverdiener unerschwinglich sein. Laut Höglmaier liegt seiner Firma bereits ein positiver Bauvorbescheid vor: Statt der bisherigen sieben Wohnungen mit rund 650 Quadratmetern Wohnfläche seien 25 Wohnungen mit etwa 3000 Quadratmetern Wohnfläche geplant.

Grundrecht auf Wohnen - solange das Geld reicht

Den Spielregeln des Immobilienmarktes kann sich auch die Euroboden GmbH nicht entziehen. Gleichwohl weiß Stefan Höglmaier um die Verantwortung von Politikern, Architekten und Investoren. "Die Stadt setzt sich aus allen Gesellschaftsschichten zusammen. Alle Bürger sollen ihr Grundrecht auf Wohnen ausüben können", fordert er.

Rico Zick hat derzeit eher das Gefühl, dass ihm dieses Grundrecht verwehrt ist. Er steht in seiner Wohnung im ersten Stock zwischen Kisten und Kartons. Unschlüssig wandert sein Blick von einem Eck ins andere. Es wirkt, als würde der freischaffende Künstler Inventur machen. Zwischen Möbeln, Kleidern und Büchern finden sich Arbeitsutensilien, Fotografien, Souvenirs, Dokumente - all die Dinge eben, in denen sich ein Leben materialisiert. Und davon hat sich seit 1978, als er mit seiner Frau und den zwei Töchtern einzog, eine Menge angesammelt.

Zeitweilig, so erzählt der 59-Jährige, haben in der rund 140 Quadratmeter großen Wohnung sieben Personen gelebt. Die Miete war günstig. Allerdings musste er in dem sanierungsbedürftigen Altbau auf eigene Kosten Küche, Bad und Böden herrichten. Zuletzt habe er, so Rick, ungefähr 1200 Euro warm gezahlt. Sein Geld verdiente der gelernte Holzbildhauer, Maler und Zeichner hauptsächlich bei Film-, Fernseh- und Theaterproduktionen, wo er Dekorationen baute.

"Du kannst dich ja beim Sozialamt melden"

Seit 2006 allerdings, nach zwei Herzinfarkten, muss er von 180 Euro Frührente und privaten Rücklagen leben. Auch er hat vergangenes Jahr die Abfindung akzeptiert und sucht seitdem nach einer neuen Unterkunft. Reihenweise habe er sich auf dem freien Markt Absagen eingehandelt. Und wenn doch ein Angebot kam, sei es entweder für ihn unbezahlbar oder zu weit "in der Pampa" gewesen: Ohne eigenes Auto oder mit schlechter Anbindung ans öffentliche Nahverkehrsnetz komme er nicht zu seinen Ärzten.

Besonders erbost hat ihn das Wohnungsamt. Dort sei ihm, anstatt zu helfen, unverblümt geraten worden, "hau erst mal das Geld von der Abfindung raus und dann kannst du dich ja beim Sozialamt melden". Noch ist es nicht soweit, noch zwingt er sich zum nächsten Schritt: Von einer Umzugsfirma lässt er seinen Hausrat in Obergiesing einlagern. Stolze 340 Euro monatlich für 14,5 Quadratmeter Depot kostet ihn das. "Ansonsten werde ich weiter nach einer Wohnung schauen, es hilft ja nichts." Bis dahin darf er bei einer Bekannten auf dem Sofa schlafen.

Wenn das Wohnungsamt nur vertröstet

Für Hasan Demir, der seit 1973 an der Erhardtstraße 10 lebt, und seinen Sohn Hakan im dritten beziehungsweise zweiten Stock läuft hingegen eine Schonfrist: Da in beiden Haushalten schulpflichtige Kinder sind, dürfen sie bis zum Beginn der Sommerferien bleiben. Eine echte Perspektive haben aber auch sie nicht. "Was sollen wir machen?", fragt Hasan Demir.

Und dann ist da noch in der Erdgeschosswohnung Gülsüm Ylmaz, 51, mit ihren Töchtern Esra, 31, und Elif, 28, beides gebürtige Münchnerinnen. Ihre Sachen sind gepackt, jetzt stehen die drei Frauen im Hinterhof, reden zum letzten Mal mit den Nachbarn. Am nächsten Morgen soll auch ihr bisheriges Heim ausgeräumt werden. "Wir hatten nur zehn Monate Zeit, um eine Wohnung zu suchen", sagt Elif. Vom Wohnungsamt seien sie bloß vertröstet worden. Daran habe auch ein Empfehlungsschreiben von Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) nichts geändert.

"Wir werden obdachlos sein"

Das Verhalten der Behördenvertreter empfindet Elif als verletzend: "Es war unverschämt, wie mit uns zum Teil umgegangen wurde. Die haben so getan, als hätten wir den Verlust der Wohnung selbst verschuldet. Das haben wir uns doch nicht ausgesucht", schimpft die temperamentvolle junge Frau. "Und was soll ich mit meinem Hund Kiara machen?", habe sie gefragt, weil ja fast kein Vermieter noch Tiere dulde. "Geben sie ihn doch in ein Heim", sei ihr geantwortet worden, sagt Elif und fügt hinzu: "Wenn die Stadt schon keine Wohnungen baut, dann darf sie eben auch den Abriss des Hauses nicht erlauben."

Bis vor kurzem hatte es noch so ausgesehen, als könnte die Familie Ylmaz zumindest übergangsweise bei einer Freundin unterkommen. Das habe sich aber zerschlagen. "Wir werden obdachlos sein", befürchtet die Mutter. Zuletzt habe man sich sogar Ferienwohnungen angeschaut, erzählt ihre Tochter Esra. Ob es damit klappt, wussten sie am Tag vor ihrem Auszug immer noch nicht, sie warteten auf einen Rückruf. Und wenn die Antwort "Nein" lautet? "Ein Plan B existiert nicht", sagt Esra. Sicher ist nur, dass sie und ihre Familie weg sein werden, so oder so.

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Quelle:
SZ vom 06.06.2015
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