SZ-Serie: München erlesen:Muffathalle sehen und sterben

Benedict Wells Autorenfoto Diogenes Pressebild

Benedict Wells' inzwischen fünfter Roman erscheint im Frühjahr 2021 und heißt "Hard Land".

(Foto: Roger Eberhard/Diogenes)

Benedict Wells hat mehr als eine Million Bücher verkauft. Sein Erstling "Becks letzter Sommer" handelt von gescheiterten Träumen

Von Bernhard Blöchl

Die Muffathalle ist ein Ort für große Träume. Benedict Wells gelang dort im Herbst 2018 das Kunststück, die vor allem bei Musikern beliebte Spielstätte auszuverkaufen, mit Kurzgeschichten wohlgemerkt. Im Anschluss signierte der in München und der Region verwurzelte Bestseller-Autor bis tief in die Nacht seine Bücher, der Fan-Andrang war Rockstar-würdig.

Ein Rockstar wollte Robert Beck immer werden, der Protagonist aus Wells' Roman "Becks letzter Sommer". Mit seiner Band Kopfgeburt war er in den Achtzigern auf einem guten Weg, der bis ins Vorprogramm von New Order führte. An diesen "magischen Abend in der Muffathalle" erinnert sich Beck mit gemischten Gefühlen. "Der Höhepunkt seines Lebens", wie der Erzähler zu berichten weiß. "Kurz darauf hatten sie ihn aus der Band geschmissen."

Um gescheiterte Träume und die unbesiegbare Lust am Neubeginn geht es in diesem Roman. Im Zentrum der sich Ende der Neunziger ("diesem vergeudeten Jahrzehnt") ereignenden Tragikomödie steht der 37-jähriger Gymnasiallehrer Robert Beck. Schwung in sein müdes Leben bringt der musikalisch hoch talentierte Sonderling Rauli. Gemeinsam mit Becks hypochondrischem Freund Charlie verschlägt es das Lehrer-Schüler-Gespann bis nach Istanbul. Doch das Fernziel ist ein anderes, es ist ein neues Leben.

Mit dem 2008 veröffentlichten Buch begann Benedict Wells' traumhafte Karriere. Der Deutsch-Schweizer war der jüngste Autor bei Diogenes, bereits der erste Wurf ein Erfolg. Es folgten weitere Hits, darunter sein Schwergewicht, "Vom Ende der Einsamkeit" (2016). Inzwischen sind alle vier Romane des Weltenbummlers in viele Sprachen übersetzt. Im Oktober 2020 bekam er in Zürich die "Goldene Diogenes Eule" verliehen, für mehr als eine Million verkaufte Bücher. Und noch eine weitere Adelung: Zu "Becks letzter Sommer" gibt es seit einigen Jahren eine würdige Verfilmung (2015, Regie: Frieder Wittich), in der Christian Ulmen den ausgebrannten Lehrer prima verkörpert.

"Becks letzter Sommer" ist ein Buch über Musik, es gibt reichlich Bezüge, von Bob-Dylan-CDs über Metallica-Shirts bis zum Konzert von Kafkas Orient Bazaar im Atomic-Café. Ein Buch über München ist Wells' Debüt auch, vor allem im ersten Teil, bevor sich die Tragikomödie zur Roadnovel entwickelt. "Kurze Zeit später", heißt es an der Stelle, "fuhren ein liebeskranker Lehrer, ein manisch-depressiver Deutschafrikaner und ein litauisches Wunderkind mit einem gelben VW die Autobahn entlang."

Davor also München - und davon nicht zu knapp. Das Café ums Eck, in dem sich Beck verliebt, ist in der Clemensstraße verortet. In Schwabing geht's ins Krankenhaus, in die Buchhandlung Lehmkuhl sowieso (sie ist Wells' Lieblingsbuchhandlung), zum Sporteln in den Luitpoldpark - im zu eng gewordenen Trikot des FC Bayern. Das Grab des Vaters liegt auf dem Nordfriedhof, und irgendwann muss Charlie ins Klinikum Haar gebracht werden. Neben die realen Orte mischt sich freilich auch Erfundenes. Eine Seibertstraße im Hasenbergl mag dem Münchner ebenso fremd vorkommen wie ein Georg-Büchner-Gymnasium. Ein Oasis-Konzert im Olympiastadion hat es ebenfalls nie gegeben. Olympiahalle ja, das war 1997, Stadion nein.

"Die Wahrheit über das Lügen" heißt Benedict Wells' Kurzgeschichten-Band, aus dem er 2018 in der Muffathalle las. Der Autor, der sich in "Becks letzter Sommer" in einigen Szenen selbst in die Geschichte schiebt, ist selbstverständlich kein Lügner. Man könnte stattdessen sagen, er liebt das Spiel mit der Wahrheit, mit Fakten und Fiktion. Schriftstellerische Kniffe gönnt sich der Cousin von Ferdinand von Schirach gleich mehrere. Bekanntlich hatte sich der junge Benedict von Schirach nach der Schulzeit in Wells umbenannt, amtlich anerkannt wohlgemerkt. Als Hommage an den von ihm sehr verehrten John Irving, zur Erinnerung an dessen Figur Homer Wells aus "Gottes Werk und Teufels Beitrag". Die Romanverfilmung wiederum wird in "Becks letzter Sommer" in den Kinos Münchner Freiheit aufgeführt (die es heute nicht mehr gibt). Benedict Wells lässt dort Robert Beck einen Filmabend mit seiner neuen Flamme Lara verbringen. Und noch eine persönliche Referenz: An Becks Schule taucht ziemlich früh ein gewisser Jesper Lier auf, der "unter dem Gelächter seiner Mitschüler auf einem Tisch stand und eine Stripshow veranstaltete." Wer Benedict Wells' Romane gelesen hat, weiß, dass der hier als Klassenclown beschriebene Lier der Protagonist aus "Spinner" ist, seinem 2009 erschienenen Zweitling. Wobei der Zweitling in Wahrheit sein Erstling ist, denn Wells schrieb die Coming-of-Age-Geschichte als 19-Jähriger, also noch vor "Becks letzter Sommer", das Diogenes als Debüt favorisierte.

Sein jüngster, fünfter Roman ist zweifelsohne zuletzt entstanden, vor Kurzem erst. Für "Hard Land", das von Diogenes für Februar 2021 angekündigt wird, verbrachte Benedict Wells mehrere Monate in amerikanischen Kleinstädten. In seiner neuen Geschichte geht es um einen 15-jährigen Außenseiter in Missouri in den Achtzigern. In den USA spielte bereits sein drittes Buch, "Fast genial". Egal ob München oder Missouri - Orte für große Träume gibt es überall in der Welt. Wells hat die Worte dafür.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: