SZ-Serie: Lieder der Stadt, Folge 10:Nachtleben im Neonlicht

Willy Michl im Café Schiller in der Schillerstraße 3 (Bahnhofsblues)

Es lebe die Liebe: Cora und Willy Michl unter der Sammlung von Muhammad-Ali-Devotionalien.

(Foto: Florian Peljak)

Willy Michl erinnert sich an den "Bahnhofs-Blues" von seiner ersten, 1974 veröffentlichten Platte. Im Sport-Café Schiller spricht er über die wilden Jahre seiner Karriere und kauft ein paar Rosen für seine Ehefrau Cora

Von Christian Jooß-Bernau

Auf dem Tisch vor ihm steht ein Weizenglas mit Rosen. Willy Michl sitzt unter dem Bademantel, der Lederjacke und dem signierten Boxhandschuh von Muhammad Ali und richtet seine Adlerfedern. Neben ihm Cora, seine Ehefrau, mit Haaren schwarz wie das Weltall und kirschsaftroten Lippen. Rote und blaue Lichtflecke der Discobeleuchtung tanzen durch die Szene. Dass da einer auf der gegenüberliegenden Straßenseite recht nah an seinem Auto steht, macht Willy unruhig. "Gefährliche Gegend", sagt er, "es hat sich verändert, es ist krimineller geworden". Wir wollen reden, über den "Bahnhofs-Blues". Einfach war es nicht, Willy hierher zu locken.

Er selbst hat dann das Sport-Café Schiller in der Schillerstraße 3 vorgeschlagen. Willy nennt es "Schiller-Espresso". So hieß das in einer wilden, schönen Zeit, bevor Hans Fretz, einst Betreiber des Leierkastens, mit seiner Lebensgefährtin Andrea Langwieder Ende der Achtziger den Laden übernahm. Mit seiner beeindruckenden Sammlung von Sportdevotionalien hat er ihn zu einem irre gemütlichen Museum gemacht, in dem man Bier trinken kann und gar nicht weiß, wohin man zuerst blicken soll. Willy und Hans Fretz waren gut befreundet. "Solche Freundschaften gibt's heute überhaupt nicht mehr", sagt Andrea Langwieder, die seit Fretz' Tod 2001 das Café allein führt. Damals war ein Handschlag noch ein Handschlag, finden Willy und Andrea. Oh Mann, was haben sie gefeiert. So, dass man nach einem Willy-Besuch schon mal das Zimmer renovieren musste.

Der "Bahnhofsblues" findet sich auf Willys erster Platte "Blues Goes To Mountain" zwischen dem "Protein-Tango" und dem "G'fängnislied" vom Kraudn Sepp. 1974 wurde das Album veröffentlicht. Aufgenommen haben sie es in den Union Studios in München-Solln mit großer Besetzung. Produzent war Gerhard Mendelsohn, der zwei Jahre später starb. Willy war seine letzte Entdeckung. Mendelsohn hatte Gus Backus groß gemacht, Connie Francis zum deutschen Schlager gebracht und mit Minas "Heißer Sand" einen Hit abgeliefert.

Ein Rosenverkäufer kommt an den Tisch. Willy kauft noch eine Handvoll. Auf dem Tisch vor ihm liegt der erste Artikel über ihn aus der Abendzeitung. "Der Wirt von der Alm singt bayrischen Blues", hatte die AZ im Dezember 1974 getitelt. Beschrieben wird einer mit Trachtenjanker und Tirolerhut, "wohnhaft in einer Hütte im Höllental unter der Zugspitze". Dort spielt er Gitarre und singt für sich. Und im Winter, da steigt er ab und fährt nach München. Der wilde Mann vom Berg. Abgestiegen in die Großstadt. Bereit to rattle your bones. Was für ein Image. "Hier ist der Wirt Sänger", wusste die Abendzeitung: "In ,Negerlokalen' hat er den Blues gelernt . . .". Die Lokale, in denen Willy damals die GIs traf, waren nicht weit vom Sport-Café entfernt - in der Goethestraße beispielsweise. Oder das Tabarin in der Thierschsstraße, zu dem die G.I.s Tambourin sagten. Mit 17 zog Willy hier um die Ecken. Es war dieser AZ-Artikel, sagt er, der den Produzenten Mendelsohn auf die Idee brachte, hier gäbe es etwas zu entdecken.

Ein Rosenverkäufer tritt an den Tisch. Was der ganze Strauß kosten soll, fragt Willy. Kurze Verhandlungsrunde, zack zack - dann gehört ihm ein Arm voll Blumen, und der Schorsch, der hier als Ober auch die Jahrzehnte hat kommen und gehen sehen, bringt einen Plastikeimer mit Wasser. Thematisch fiel der "Bahnhofsblues" etwas aus dem Rahmen. Hören kann man ihn aktuell auf Willys Sampler "Blues Infusion Vol. 2". Erhältlich ist der über Willy Michls Homepage, und hier kann man demnächst auch sein Crowdfunding unterstützen, das ihm die Produktion eines neuen Albums ermöglichen soll. Im Sport-Café drehen sie jetzt den Fernseher auf, dass man auch ordentlich was vom Fußball mitbekommt. Selbst auf der Toilette flackert gleich neben der Pinkelrinne ein Flatscreen. So verpasst man nichts. Gott sei dank.

"I steh scho wieda an der Eckn / i kummned weg - ned ums Vereckn" geht der Bahnhofsblues los. Geschrieben hat den Text Rudolf Bengert, den alle nur Rolf Bengert nannten, oder Bäng-Bäng. Der Bäng-Bäng war ein ganz alter Willy-Kumpel, hatte mit ihm schon Anfang der Siebziger eine Band, die Latin Blues Power hieß und in der der Bäng-Bäng Flöte spielte. Bengert studierte zeitweise Altphilologie und im Hauptfach das wahre Leben: "A Schaschlik schiab'e ma in Grong / Da Schnaps brennt owi in mein Mong / A Markl nei in Automat / Kugel hoidt de blos ned staad." Der Bäng-Bäng war ein bisschen älter als Willy, trieb Willy das Kiffen aus und brachte ihm das Saufen bei: "Natürlich hab ich den Song damals gesungen. In dieser Brutalität, in der ich damals auch noch lebte. Aber ich hab das schnell begriffen, dass diese Mentalität ins Unglück führt." Willy trinkt schon lange Wasser. Neben dem Tisch steht ein Rosenverkäufer. Sorry man, no money.

Der Text des Bahnhofs-Blues wird gnadenlos vorangetrieben, durch den schnellen Bluesrock, den Willy für den Text geschrieben hat. Das Leben strömt hinein in den Sänger. Immer hinein. Er schluckt, schlingt, würgt. Aber der Ich-Erzähler und Willy Michl, das sind nicht dieselben: "Diese bukowskimäßige Verzweiflung, das bedrückt mich, da fürcht' ich mich. Das sind Spirits, mit denen will ich nichts zu tun haben", sagt er heute. Irgendwann hat er aufgehört, den Song zu singen. Den Text über die Kraxn mit den krummen Haxn, das Speibm und Weitersaufen: "Diese verkommene Säufer- und Freierschädelmentalität ging mir irgendwann gegen den Strich." Auftritt Rosenverkäufer. Sorry, man. Abtritt Rosenverkäufer.

Auch heute noch kann Willy im Text vor- und zurückspringen, man spürt, wie ihn der Flow der Bengert-Worte mit sich reißt. Wenn die Meute im Song der Hunger packt, geht es ins Golden Nizza auf eine Pizza: "Diese Genialität, das Golden Nizza zu erfinden. Das hat es hier nie gegeben, aber das hätt' es geben können." Es ist nicht so, dass Willy die Bahnhofsgegend gemieden hätte: "Wenn hier Sperrstunde war, ist man zu Fuß nach Sendling gegangen." Da hat man dann um hundert Mark Karten gespielt. Wobei der Oide Schmied aus dem Text einerseits eine real existierende Wirtschaft bezeichnet, eigentlich aber auch nur symbolisch für eine Spelunke steht, in der die Nacht weiter tobt. Hier, sagt der Willy, haben sich die Jungs das Geld für den Doornkaat und das Bier am nächsten Morgen verdient. "Dann ham's gspiebn und dann san's wieder zum Saufen gegangen."

Willy hat in seiner Tasche noch einen Geldschein gefunden. "Ja scheiße", sagt er, "wenn ich des gewusst hätt, hätt ich ja noch Rosen kaufen können." Mit zunehmender Verweildauer verschmelzen der Indianer, Cora, das Neonlicht, der Fußballsound und Muhammad Alis Bademantel zu einem stimmigen Tableau. Dieser Indianer hat zwei Seiten. Die eine kennt man. Hier spielt er auf immer und ewig das "Isarflimmern". Aber neben der Natur gab es immer auch die Metropole: "Ich bin zwischen dem Red-Light und dem Gebirge hin und her gependelt - und dazwischen floss die Isar durch", sagt Willy, und seine Cora muss da so laut lachen, dass für eine Sekunde der brüllende Fernseher die Luft anhält.

Ein Anruf am nächsten Tag: Ob man das gewusst habe? Ein Rosenverkäufer sei noch vorbeigekommen. Mit den schönsten Blumen überhaupt. Ganz frisch.

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