Noch sind die Türen geschlossen. 27 Paar Beine stehen stramm, 54 Arme breiten sich aus. Sobald die Türen sich öffnen, schwenken die leuchtenden Warnwesten synchron beiseite und bilden einen Durchgang. Gummihandschuhe winken die Letzten durch die Türen, die sich piepsend schließen. Eine routinierte Drehung und wieder berühren sich die Füße. 27 rechte Arme schnellen hintereinander in die Höhe.
Was anmutet wie eine Trockenübung fürs Wasserballett, ist der Grund dafür, dass der Bahnverkehr an diesem Abend nicht im Chaos versinkt. Die orangefarbenen Kacheln im U-Bahnhof Marienplatz werden überstrahlt von rot-weißen Fußballtrikots der Fans, die den Bahnsteig füllen. Alle paar Minuten fährt eine U-Bahn ein und alles drängelt zu den Türen.
Sicherheit:Während der Wiesn fährt die U-Bahn am Rande des Zusammenbruchs
Die Oktoberfest-Gäste wollen Bahn fahren, die Pendler ebenfalls - und dann kommen noch die Fußballfans. Ein internes Protokoll zeigt, wie überlastet das System an solchen Tagen ist.
Das muss koordiniert werden. Zuerst müssen Fahrgäste aussteigen, Türen müssen rechtzeitig schließen, niemand darf mehr hinter dem Sicherheitsstreifen stehen. Erst dann zeigt die Meldekette - so heißen die hochgereckten Arme in der Fachsprache - dem Zugführer an, dass er losfahren darf. Bei Fußballspielen, zum Oktoberfest, aber auch in der morgendlichen Rushhour stehen die sogenannten Abfertiger der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) an den Verkehrsknotenpunkten der Stadt und koordinieren das Aus- und Einsteigen der Massen. Sie arbeiten sonst in unterschiedlichen Abteilungen bei der MVG, zwei von ihnen sind Rentner und können einfach nicht genug davon bekommen.
Das Kommando über die Abfertiger hat Christian Popp. "Verkehrsmeister" steht in blauer Schrift auf dem Schild an seiner Brust. Wenn der 31-Jährige in seiner MVG-Uniform an den Türen steht und den Fahrgästen zeigt, wo es langgeht, schaut er ernst. Dass der gesamte Münchner U-Bahn-Fahrplan nicht durcheinandergerät und dass alle sicher ins Stadion kommen, liegt in seiner Verantwortung. Zwischendurch fasst er an den Knoten seiner dunklen Krawatte und spricht in das kleine Mikrofon. Die Tasten des Funkgeräts an seinem Gürtel leuchten neongrün.
Vor sechs Jahren begann der gelernte Koch eine Ausbildung als U-Bahn-Fahrer. Schon als Kind spielte Popp gerne mit der Modelleisenbahn. 2013 setzte er die Ausbildung zum Verkehrsmeister obendrauf. Seither ist er verantwortlich für den reibungslosen Ablauf des Verkehrs im Münchner Netz. Christian Popp arbeitet gerne nachts, er fährt die Bahnhöfe ab, kontrolliert, ob alles seine Ordnung hat und greift in den Fahrplan ein, wenn Umleitungen erforderlich sind.
Angeheiterte Menschen kann man mit Humor erreichen
Die Rolltreppe spuckt eine Ladung Grün aufs Gleis, Fans der gegnerischen Mannschaft aus Bremen. Die U-Bahn-Wache mit ihren Pistolen und dem Pfefferspray im Gürtel nimmt sie in den Blick. Das Grölen vom Ende des Bahnsteigs wird schnell übertönt von der rot-weißen Menge der Bayern-Fans. Seelenruhig steht Popp im Luftzug, den die Bahn bei der Einfahrt aus dem Tunnel schickt, und kündigt den Zug an: "Die U 6 Richtung Garching-Forschungszentrum. Bitte alle Türen nutzen." Einem Teil der Fans ist das einen Applaus wert. "Das war doch noch nix. Los, Leute, Stimmung!", ruft Popp da in sein Mikrofon. Tosender Beifall ist die Antwort. "Er ist unsere Stimmungskanone", sagt ein Abfertiger und deutet mit dem Daumen auf Popp.
Angeheiterte Menschen seien bei Großveranstaltungen besser mit Humor zu erreichen, sagt Matthias Korte, Pressesprecher der MVG. Deswegen ist Christian Popp nicht nur Ansager, sondern auch ein bisschen Animateur. "Die Stimmung und die Freude der Fans nehme ich mit und versuche sie zu halten", erklärt er. Dann seien die Fahrgäste kooperativer. Deshalb nennt er Fahrgäste, die aus der Reihe tanzen, gerne "Schatzl", hält sie zum Applaudieren an und bringt sie zum Lachen. Viele kennen ihn schon mit Vornamen, grüßen ihn und erkundigen sich, wie es am Abend läuft. "Ich habe es schon geschafft, dass ich besungen wurde", erzählt Popp lachend: "Christian, wir wollen U-Bahn fahren", haben die Fans gerufen. Für ihn war das einer der schönsten Momente.
Tatsächlich ist es das Getümmel bei den Großveranstaltungen und die Stimmung, die Popp an seiner Arbeit am meisten reizen. Während viele Münchner es schon anstrengend finden, die U-Bahn zu nehmen und sich durch das Gedrängel zu kämpfen, wenn in der Arena gespielt wird, freut Christian Popp sich dann besonders auf die Arbeit. "Das hat einfach einen gewissen Fun-Faktor." Er und sein Team aus Abfertigern am Marienplatz und am Odeonsplatz sichern jeden einzelnen Zug, blockieren die Türen und geben sie wieder frei, dirigieren die Menschen und bringen routiniert Ordnung ins Chaos. Oft werden sie dabei übersehen, manchmal gibt ein Fan einer Hand in der Meldekette einen High-Five-Handschlag. Am wichtigsten ist für die Abfertiger, dass niemand verletzt wird. Einen Unfall hat Christian Popp aber noch nie erlebt, betont er.
Ein ehrenvoller Job, für den man sich nicht bewerben kann
Wenn die Arbeit am Marienplatz erledigt ist, fahren die Abfertiger nach Fröttmaning und weisen die Fans dort nach dem Spiel wieder ein. Erst nach Mitternacht haben sie an Abendspiel-Tagen Feierabend. Die Stimmung richte sich immer nach dem Spielverlauf, erzählt Popp. Gewinnen die Münchner, kann er Witze machen und sich mit den Fans freuen, verläuft das Spiel schlecht, seien die Fans deprimiert. Aber das kommt bei den Bayern ja seltener vor als bei anderen. In solchen Fällen macht er keine Scherze, sondern spricht ruhig und dezent ins Mikro. Aggressiv seien die Massen aber nie, meint er. Und wenn es mal zu einer Rangelei kommt, greift sofort die U-Bahn-Wache ein. Stressiger sei es bei Regenwetter, da wollen nach dem Spiel alle auf einmal vom Stadion in die Bahn.
Über die Frage, was das Anstrengendste an seinem Job ist, muss Popp lange nachdenken. "Es ist ein gewisser Stressfaktor für mich", sagt er irgendwann. "Allein das Wissen, dass ich die 20 000 sicher ins Stadion bringen muss. Beim ersten Spiel habe ich schlotternd hier gestanden." Wenn er von seinem Beruf spricht, sagt er oft das Wort "Verantwortung" und manchmal "Ehre". Auf den Job als Einsatzleiter bei der Abfertigung kann man sich nicht bewerben, betont Popp. Dafür wird man vorgeschlagen. Dass die MVG ihn auserwählt hat, darauf ist er stolz. Ob er seinen Traumjob gefunden hat? "Absolut", bestätigt er nickend - und wenn er das sagt, leuchten seine Augen.