Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie: Gut ausgedacht, Folge 10:Der Duft des Erfolgs

Ein Erfinder-Duo hat ein Trinkflaschensystem entwickelt, welches das Hirn austrickst: Pures Wasser schmeckt süß - obwohl nur Geruch beigefügt wird

Von Annette Jäger

Der Mensch ist schwach. Er weiß, dass Zucker ungesund ist und doch trinkt er Cola, Limonade, Saftschorlen, Eistees und was der Markt zu bieten hat an gesüßten Getränken. Genau da setzt die Erfindung an, die Lena Jüngst und Tim Jäger gemeinsam entwickelt haben. "Air up" heißt ihr Trinkflaschensystem, dass das Gehirn austrickst: Purem Wasser wird natürlicher Geschmack zugefügt, jedoch nur durch Duft. Das Wasser bleibt dabei pures Wasser, aber es schmeckt scheinbar nach Kirsche, Orange-Maracuja, Limette, Gurke, Hopfe-Zitrone oder Eierlikör.

Das Ganze funktioniert über sogenannte Pods. Das sind Ringe, die über den Flaschenhals einer eigens ausgetüftelten Trinkflasche gestülpt werden und das Aroma liefern. Nach Markteinführung im Sommer 2019 waren 80 000 Flaschen innerhalb von nur zwei Monaten verkauft. Lena Jüngst lebt etwas, wovon viele träumen: etwas erfinden, ein Start-up gründen, Erfolg haben. Sie ist 27 Jahre alt und als Frau in der Gründerszene eine Ausnahme.

Der Firmensitz von Air up in der Münchner Bayerstraße hat alles, was ein Start-up vermeintlich braucht: einen Kicker, einen Gemeinschaftsraum mit Küchenzeile, der auch die Wohnküche einer Studenten-WG sein könnte; zu sehen sind Mitarbeiter in Turnschuhen, die an hellen Holztischen arbeiten und im Durchschnitt Ende 20 sind. In der Gründerszene sind Frauen unterbesetzt, sie machen gerade mal 15 Prozent aus, sagt Lena Jüngst, die im grellorangefarbenen Pullover in einem der Besprechungsräume sitzt. "Auf Veranstaltungen der Gründerszene ist die Schlange vor den Mädchentoiletten immer kürzer." Man steche heraus, als Frau.

Das liege zum Teil an den Investoren. Denn sie sind diejenigen, die mit ihrem Kapital über den Weg einer Erfindung entscheiden. "Die Investoren sind meistens Männer und die investieren eher in den Gründertyp, den sie kennen: Männer." Sie hat sich durchgeschlagen in der Branche, auch gegen anfängliche Vorbehalte. Die Flaschen-Idee war einfach zu gut.

Lena Jüngst und Tim Jäger haben im Sommer 2016 an ihrer Bachelor-Arbeit mit dem Thema "Neuroscience meets design" gearbeitet. Ein Produkt zum Thema war zu entwickeln. Ein neurowissenschaftlicher Vortrag über Sinneswahrnehmungen und wie sie beeinflusst werden können, gab einen entscheidenden Impuls. Die beiden beschäftigten sich in der Folge mit "retronasalem Riechen": Das ist der Sinneseindruck, wenn Duft in den Mund und Rachenraum gelangt - und das als Geschmack wahrgenommen wird. Daraus wurde die Idee mit dem scheinbar aromatisierten Wasser geboren.

Nun galt es nur noch, den Duft in den Mund zu kriegen. Das Erfinder-Team experimentierte mit Raumbeduftern und Strohhalmen und baute schließlich den ersten Flaschentypus aus einer billigen Plastikflasche, einem Strohhalm und mit Backaromen getränkten Wattepads. "Krass, das funktioniert", erinnert sich Lena Jüngst an den besonderen Moment. "Der Duft geht auf Reise durch den Mund, hoch in den Rachenraum, weiter zu den Riechrezeptoren und über die Nase wieder nach draußen", beschreibt sie das Phänomen. Damals gab es noch keinen Gedanken daran, dass daraus ein Produkt werden würde, das sich gut verkaufen lässt.

"Durchhaltevermögen, visionäres Denken und Lust, Neues zu lernen", sind drei Eigenschaften, die man als Erfinderin benötigt, sagt Lena Jüngst. Außerdem die Bereitschaft, sehr, sehr viel zu arbeiten. Ein alter Bekannter, Fabian Schlang, fand das Thema zu gut, um es als Bachelor-Arbeit liegen zu lassen; er entwickelte es in seiner Masterarbeit weiter. Die Idee der Firmengründung nahm Gestalt an. Ein Vierter, Jannis Koppitz, ein alter Schulfreund, kam dazu und schrieb den Businessplan, etwas später wurde Simon Nüesch der Fünfte im Bunde.

Das Team erhielt ein Gründerstipendium, später legte ein Investor das Wagniskapital auf den Tisch, 2018 wurde Air up gegründet. Ein ganzes Unternehmen war aufzubauen, mit Finanzplanung, Produktion, Lieferketten, Logistik, Vertrieb, Marketing, Personalplanung. In der Hochphase, kurz vor Markteintritt, arbeitete Jüngst jeden Tag bis 22 Uhr oder länger, auch am Wochenende. Heute, ein Jahr nach Markteinführung der neuartigen Flasche, zählt das Unternehmen rund 70 Mitarbeiter, es gibt einen Online-Shop; zudem ist die Flasche in diversen Supermarktketten erhältlich.

Es war kein Weg ohne Krisen. Es gab extreme Höhen und Tiefen, erinnert sich Lena Jüngst. Aber ihr war klar, dass sie beruflich nicht den aus ihrer Sicht langweiligen Mittelweg gehen wollte. Ein festes Jobangebot in Amsterdam schlug sie mitten in der Gründungsphase aus. Sie wollte lieber etwas Kreatives machen und etwas, das begeistert. Etwas, das ihren Idealen und Werten entspricht. Nachhaltigkeit als Firmenkultur gehört dazu. Das Trinksystem mit den wiederverwertbaren Flaschen helfe zum Beispiel, Plastikmüll zu reduzieren. Sie ist der Überzeugung, dass die heutige Zeit eine "radikale Veränderung" benötige. Sie weiß aber auch, dass man niemanden zum Wandel zwingen kann. "Ich glaube an Produkte, die Bedürfnisse berücksichtigen, aber so clever sind, dass sie auch Gesundheit und Umwelt berücksichtigen." Da gibt es noch mehr Produkte, die in diese Richtung gehen, meint sie. Lena Jüngst ist im Start-up für Produktvision zuständig. Sie versucht jetzt, weniger zu arbeiten, die Wochenenden frei zu halten. "Ich brauche Freiraum, um um's Eck zu denken".

Die Serie wird in loser Folge fortgesetzt.

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Quelle:
SZ vom 26.09.2020
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