Eine Pause von ihrer anstrengenden Arbeit hat die koreanische Künstlerin Eunmi Chun dringend gebraucht. Deswegen bewarb sie sich für einen neunmonatigen Aufenthalt im Künstlerhaus Schloss Balmoral in Bad Ems. Kurz nach ihrer Rückkehr im Februar kam der Lockdown. Nun verengte sich ihr Leben auf die kleine Wohnung. An Arbeit war erst mal nicht zu denken. "Aber die Ruhe hat bewirkt, dass ich klarer sehen konnte." Dabei kreisten ihre Gedanken um die Frage, was ihre Arbeit eigentlich für sie bedeutet. Die Antwort: Selbsterkenntnis.
Eunmi Chuns Arbeit zehrt an den Kräften, physisch und psychisch. Ihr Material sind Schlachtabfälle: Schweinehaut und Kuhdärme reinigt, spannt und trocknet sie, um feines Pergament zu gewinnen, aus dem sie die Teile für ihren Schmuck schneidet. Vor rund zehn Jahren begann sie, daraus vollplastische Tierbroschen zu formen, häufig in Kombination mit menschlichen Haaren und pflanzlichen Samen. Eisbär, Gorilla oder Panda nahmen als federleichte, geisterhaft durchscheinende Stellvertreter aussterbender Spezies Platz auf den Schultern empathischer Menschen. Es folgten Anhänger mit Tierköpfen, die sich mit pflanzlichen Elementen zu genauso anmutigen wie befremdlichen Grotesken verbanden. Werden und Vergehen, der ewige Kreislauf des Lebens, sind grundlegende Themen im Werk von Eunmi Chun.
Als Eunmi Chun 2003 aus Seoul für ein Gastsemester an der Pforzheimer Goldschmiedeschule nach Deutschland kam, hatte sie nicht nur einen Bachelor in Mathematik, sondern auch einen Master für Metallarbeiten und Schmuck in der Tasche. Bei einem Besuch der Internationalen Handwerksmesse in München wurde sie auf die Klasse Schmuck und Gerät an der Kunstakademie aufmerksam. Auch da wollte sie nicht lange bleiben, merkte aber, sie braucht Zeit, um ihren Weg in der gewährten Freiheit zu finden. Damals begann die Auseinandersetzung mit der Frage: Was ist schön? Kann etwas wahrhaft schön sein, das von vielen als eklig und abstoßend empfunden wird? So kam sie zu ihrem Material, den Dünn- und Dickdärmen von Kühen. Wie Alchemisten in alten Zeiten aus minderwertigen Stoffen Gold gewinnen wollten, so schuf die Künstlerin aus den Tierhäuten berührenden Schmuck. Wobei sie betont, dass der Weg immer wichtiger sei, als das Ergebnis.
Vor der Pause, der selbst gewählten und der pandemisch erzwungenen, schuf die Künstlerin körperbedeckende Ketten aus federähnlich geschnittenen, mit Tinten changierend gefärbten und überlappend unsichtbar vernähten Pergamenten. Die Colliers mit den sprechenden Namen "Schwanz des legendären Fuchses", "Schwingen des blauen Vogels" oder "Schwarzer Adler" wirken wie Kostüme, in die man schlüpft um das eigene Äußere zu verbergen oder das verborgene Innere nach Außen zu kehren. "Die Maskerade", erklärt die Künstlerin, "schließt die Lücke zwischen der äußeren Erscheinung und dem, was in unserem Kopf vorgeht". Der blaue Vogel, der Adler und der Fuchs stehen dabei für ein Verlangen nach Freiheit und Idealismus.
Etwa einen Monat braucht es, bis Eunmi Chun das Material für eine Kette vorbereitet hat, und dann dauert es noch einmal drei Wochen, in denen sie Tag für Tag zehn Stunden lang die "geschminkte" Tierhaut kunstvoll zusammennäht. Ist so ein rüstungsgleiches Federkleid fertig, schickt die Künstlerin es normalerweise gleich zu ihrem Galeristen nach New York. Damit befreit sie sich zugleich von der Last der erschöpfenden Arbeit. Durch die Pandemie aber blieben drei Arbeiten im Atelier der Künstlerin. So holt sie die Archivkartons aus der Werkstatt-Schublade und zeigt ihre Wunderwerke der Überwindung, der Geduld und vollendeter Schönheit.
Ihr neuer Schmuck soll kleiner, weniger verausgabend werden. Aber ihr Werk wird fabelhaft bleiben. Derzeit beschäftigt sich die Künstlerin mit dem koreanischen Märchen von der neunschwänzigen Füchsin Gumiho. Üblicherweise als Horrorgeschichte erzählt, bekommt die Fabel bei Eunmi Chun eine nachdenklich feministische Lesart, in der Aufopferung und Geduld auf der einen und Unverständnis auf der anderen Seite eine wesentliche Rolle spielen.