SZ-Serie: Echte Europäer, Folge 4:Vom Glück hinter den Karpaten

Edda Brinkmann ging mit dem Europäischen Solidaritätskorps nach Rumänien. Sie diskutierte mit Schülern über Bürgerrechte und verliebte sich in ein unbekanntes Land

Von Martina Scherf

Edda Brinkmann sitzt im Garten ihres Elternhauses im Münchner Osten, sie trägt ein buntes Sommerkleid, der Apfelbaum spendet Schatten. Seit ein paar Wochen ist sie zurück von ihrem Freiwilligen-Dienst in Rumänien. Doch in Gedanken ist sie noch immer halb hier, halb dort. "Es war eine fantastische Zeit. Ich will auf jeden Fall wieder hin", sagt die 19-Jährige und schenkt Wasser aus einer großen Karaffe ein.

Rumänien, das ist das hinterste Europa. Seit 2007 ist das Land EU-Mitglied. Viele Deutsche würden es dennoch kaum richtig auf der Karte einordnen. Es sieht aus wie ein Mondfisch, die Schwanzflosse ist der Zugang zum Schwarzen Meer. Von den Karpaten bis zum Donaudelta reichen die Landschaften, und dazwischen leben mehr als ein Dutzend Minderheiten mit eigenen Sprachen und Traditionen. "Wenn man in München Menschen nach Rumänien fragt, dann haben viele ein negatives Bild im Kopf und denken als erstes an Armut", sagt Edda Brinkmann. "Dabei ist es so ein tolles Land. Ich liebe es."

So ist das mit den Vorurteilen in Europa. Es gibt Länder, die stehen für Autos, Fußball, Konzerthäuser. Für Strände und Kulturdenkmäler. Und dann gibt es welche, deren schöne Seiten es fast nie in die Medien schaffen. Deren Name höchstens fällt, wenn Menschen, die von dort kommen, in deutschen Schlachthöfen schuften und sich dann mit Corona anstecken.

"Auch ich wusste natürlich überhaupt nichts von diesem Land", sagt Edda Brinkmann. Ihr Austauschjahr im Gymnasium hatte sie in Frankreich verbracht. Im vergangenen Jahr machte sie ihr Abitur. Dann bewarb sie sich für das European Solidarity Corps, ein Freiwilligen-Programm der Europäischen Union. Sie suchte ein Projekt, das mit politischer Bildung zu tun haben sollte. In welchem Land, das ließ sie offen. Acht Monate weg von zu Hause und etwas Sinnvolles tun, das war das Ziel. Und weil ihre Mutter bei Pulse of Europe aktiv ist, ist europäische Solidarität zu Hause fast täglich Thema am Küchentisch.

SZ-Serie: Echte Europäer, Folge 4: "Die Monate in Rumänien waren die beste Zeit meines Lebens", sagt Edda Brinkmann. Jetzt warten neue Abenteuer auf die 19-Jährige. Im September beginnt sie ihr Studium in den Niederlanden.

"Die Monate in Rumänien waren die beste Zeit meines Lebens", sagt Edda Brinkmann. Jetzt warten neue Abenteuer auf die 19-Jährige. Im September beginnt sie ihr Studium in den Niederlanden.

(Foto: Privat)

Warum also nicht Rumänien? Im Oktober 2019 stieg Edda Brinkmann am Münchner Hauptbahnhof in den Zug, allein. 1600 Kilometer Fahrt lagen vor ihr, 28 Stunden Reise. Über Wien und Budapest ging es nach Bukarest, die rumänische Hauptstadt. Dort kaufte sie eine neue Fahrkarte und stieg in den Regionalzug nach Focșani. Eine Kleinstadt, ganz weit im Osten.

"Am Bahnhof erwartete mich eine Rumänin, die weder Deutsch noch Englisch sprach", erzählt Edda Brinkmann und lacht. "Aber mit Händen und Füßen ging es auch." Sie fuhren dann in eine Wohnung, die sich die Münchnerin in den kommenden Monaten mit drei anderen Freiwilligen teilen sollte, zwei Franzosen, und einer Finnin. "Wir wurden schnell Freunde". Ihre Aufgabe: Gruppenarbeit mit Jugendlichen, "global education".

Jeden Vormittag gingen sie in die weiterführende Schule in ihrem Stadtteil. Auf Englisch sprachen sie über Menschenrechte, Umwelt, Demokratie, Minderheiten. Ein Teil der Kinder sprach gut Englisch, für die anderen übersetzte eine Lehrerin. Manche Themen waren leichter zu besprechen als andere, sagt Edda Brinkmann. Der Klimawandel, klar, das hatte jeder schon mal gehört. Aber Gleichberechtigung von Mann und Frau? "Da war ich schon erstaunt, welche Vorurteile von manchen Schülern kamen." Frauen sollten zu Hause bleiben, sie seien für Haushalt und Kinder zuständig, zum Beispiel. "Da habe ich geschluckt." Ihre Mama ist Professorin, Edda träumt davon, Diplomatin zu werden.

Echte Europäer

Mit Corona kehrten die Schlagbäume zurück - und wer in mehr als einem Land zu Hause ist, hatte ein Problem. Von Menschen, die täglich erleben, wie wichtig offene Grenzen sind.

Aber dann, erzählt sie, nach einigen Tagen, hätten sich vor allem die Mädchen mehr geöffnet. "Sie sagten uns: Wir haben ja noch nie über so etwas gesprochen. Man spürte dann richtig, wie es in ihren Köpfen arbeitete. Das war schön."

Manche Themen waren komplizierter. Diskriminierung von Schwulen und Lesben, zum Beispiel. Oder Schutz von ethnischen Minderheiten. "Sinti und Roma werden fast überall diskriminiert, das fiel uns gleich auf." Bei ihren nachmittäglichen Streifzügen durch das Städtchen sah die Münchnerin vieles, womit sie erst einmal fertig werden musste. "Einmal wollte eine Frau ein Taxi rufen, niemand ließ sie einsteigen." Immer wieder sah sie bettelnde Roma-Kinder, die mit Besen vertrieben wurden.

In der Adventszeit mussten Kinder den ganzen Tag lang Weihnachtslieder auf der Straße singen, "bis ihre Stimmen heiser waren", erzählt sie weiter. "Es schockierte mich, dass niemand bei diesen Kindern die Schulpflicht durchsetzt." Auch Monate später, wenn die 19-Jährige zu Hause bei den Eltern im Garten sitzt, wird ihr jugendliches Gesicht für einen Moment lang ganz ernst, als sie von solchen Erlebnissen erzählt. Dabei ist der Anblick von Armut für Edda nicht neu. Sie hat einen Opa in Peru. "Dort habe ich so etwas auch gesehen. Aber in einem europäischen Land?"

SZ-Serie: Echte Europäer, Folge 4: Im Team mit zwei Franzosen und einer Finnin hielt die Münchnerin Politikunterricht an einer rumänischen Schule.

Im Team mit zwei Franzosen und einer Finnin hielt die Münchnerin Politikunterricht an einer rumänischen Schule.

(Foto: Privat)

Auf der anderen Seite waren da aber diese vielen positiven Begegnungen mit Menschen, wegen derer sie noch heute von dem Land schwärmt. "Es war unglaublich, wie sich die Kinder gefreut haben, dass wir kommen", erzählt Edda. "Alle wollten Fotos machen, sie haben uns umarmt, egal, wo wir hinkamen. Ständig wurden wir von irgendwem eingeladen." Sie klappt ihr Laptop auf und zeigt Fotos. Vom Markt, von der Schule, von den Kindern. Mit einigen hält sie immer noch Kontakt. Bis sie ihr Studium in den Niederlanden beginnt, erteilt sie ihnen Deutschstunden per Zoom. Über 1600 Kilometer hinweg üben sie Vokabeln, spielen Spiele oder backen gemeinsam Pfannkuchen.

In den acht Monaten hat sie auch ein wenig Rumänisch gelernt. Mit ihren Schülern und beim Einkaufen ging das recht schnell. Am Anfang seien aber auch ab und zu lustige Missverständnisse passiert. Einmal gab sie einer Marktfrau aus Versehen 30 Leu statt drei, für ein Pfund Tomaten. Umgerechnet weniger als ein Euro. "Da sagte die Frau: Nein, nein, nur drei, und gab mir das Wechselgeld zurück." Umgekehrt sei es in der ganzen Zeit nie geschehen, dass sie jemand ausnutzen oder beklauen wollte.

Solidaritätskorps

Das Europäische Solidaritätskorps (ESK) ist ein Programm der Europäischen Union für Menschen zwischen 18 und 30 Jahren. Sie engagieren sich in zivilgesellschaftlichen Einrichtungen, fördern dadurch die europäische Solidarität und sammeln zugleich Lebenserfahrung. Es gibt Programme von zwei Wochen bis zu einem Jahr, auch Praktika und Arbeitsstellen werden vermittelt. Zudem gibt es Projekte, bei denen junge Leute in ihrer Heimat den Europa-Gedanken verbreiten. Im aktuellen Haushalt der EU-Kommission stehen für das ESK insgesamt 375 Millionen Euro zur Verfügung. Seit 2018 nahmen in Deutschland 1700 Jugendliche teil. Aus anderen EU-Ländern kamen im selben Zeitraum 1200 Jugendliche nach Deutschland. Die Bewerbung läuft über das Europäische Jugendportal der EU-Kommission (www.solidaritaetskorps.de) mse

Viele junge Rumänen wollten Deutsch lernen, sagt Edda Brinkmann, in der Hoffnung, eines Tages in Deutschland arbeiten zu können. Und immer wieder sei der Satz gefallen: Warum kommt ihr denn zu uns, wenn hier doch alle wegwollen? Weil ihr in einem wunderbaren Land lebt, das in Europa oft vergessen wird, antwortete die Münchnerin dann. Weil sie durch den Aufenthalt für sich selbst viel lerne. "Und weil ich will, dass wir zusammenwachsen. Wir Jungen müssen dafür kämpfen."

Dann kam das Corona-Virus. "Meine Eltern wollten, dass ich zurückkomme", erzählt Edda Brinkmann. "Aber Rumänien war gar nicht so stark betroffen, und ich wollte auf keinen Fall abbrechen." Sie blieb. Die WG musste dann nach Mărășești umziehen, ein Dorf, das sie schon von vorherigen Besuchen kannten. Sie durften eine Zeit lang die Wohnung nicht mehr verlassen. Da hielten sie, so gut es ging, Videounterricht für ihre Schüler. Letztlich blieb Edda Brinkmann dann sogar länger als geplant in Rumänien, weil die Heimreise erst mal gar nicht mehr möglich war. "Es hat uns nicht gestört, wir haben das Beste aus der Zeit gemacht", sagt sie.

Was Europa für ältere Rumänen bedeutet, habe sie erst im Laufe der Zeit begriffen, erzählt sie dann noch. Als die Leute ihr von früheren Zeiten berichteten. Von der Diktatur. "Das waren oft traurige Geschichten."

Eine alte Frau erzählte, wie sie damals als Kind für Essen anstehen musste und vor Schwäche in der Schlange umgekippt sei. "Keinen hat es gekümmert, weil alle nur ums Überleben kämpften", sagt Edda. "Da standen mir Tränen in den Augen, als ich das hörte." Die Älteren erzählten auch, wie sie nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs erfahren hätten, dass alles, was man ihnen jahrzehntelang erzählt habe, Lügen gewesen seien. Vielleicht, meint Edda, habe sie deshalb während ihres ganzen Aufenthalts keine einzige antieuropäische Stimme gehört.

Weil sie erst nicht nach Hause reisen konnte, erprobte die Abiturientin dann auch noch ihre Fähigkeiten in der Landwirtschaft. Sie pflückte Kohlköpfe auf einem Acker. "Das war mein Beitrag als umgekehrte Erntehelferin", sagt die 19-Jährige und lacht. Die Bauern hätten viel Spaß gehabt, weil die Deutschen so langsam waren. "Jetzt weißt du, warum ihr uns Rumänen zum Spargelstechen braucht", sagten sie.

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