Süddeutsche Zeitung

SZ-Serie - Die Umsteiger, Menschen mit ungewöhnlichen Lebenswegen, Folge 10:Unter Spannung

Lesezeit: 6 min

Karl Saur war stets auf der Suche nach dem Perfekten. Im Umgang mit dem Bogen hat er es gefunden

Von Johannes Korsche

Für Karl Saur ist das, was er in seiner kleinen Kellerwerkstatt in der Hand hält, "ganz, ganz wichtig für die Menschheit gewesen". Diese "erste Maschine der Menschheit", die sich im alltäglichen Leben heute nicht mehr wiederfindet, ist zu Saurs Lebensmittelpunkt geworden. "Das macht Feuer, Musik, also Kultur, Krieg, Sport und bringt Fleisch", sagt er, kurz bevor er die Sehne seines Langbogens auf Spannung bringt und das Holz so in die bogentypische Form wölbt. Zum Beweis holt er aus dem Regal hinter sich einen Pfeil hervor, spannt eine kleine Plastikdose zwischen Sehne und dem unteren Ende des gewölbten Holzes und haut mit dem Pfeil an die Sehne. Ein Ton, erstaunlich hoch, schwirrt durch die süßlich nach Holz und Leim riechende Werkstattluft. "Das ist ein Schlaginstrument."

Saur mag solche simplen Dinge, die einfach "funktionieren". Vielleicht liebt er deswegen den Bogen, den er erst mit fast 40 Jahren das erste Mal in der Hand hielt. Davor reist er auf Montage durch das Land, optimiert Maschinen und Arbeitsprozesse, erfindet ein lukratives Arbeitsverfahren und richtet Autos her. Immer treibt ihn der Wille an, das, was er gerade tut, beim nächsten Mal noch besser zu machen. Saur selbst bezeichnet sich deswegen als "Praktiker". Doch bei dieser Beschreibung fehlt mindestens noch ein "perfektionistischer". Ein Beispiel: Er habe sich mal eine Kaffeemaschine gekauft. Sie machte guten Kaffee, nichts zu beanstanden. Aber die mitgelieferte Kanne bringt Saur dann zum Schimpfen. Weil sie beim Ausgießen immer tropfte. "Arschlochdesigner", urteilt Saur. Die Kaffeemaschine hat er heute nicht mehr. Was nicht "funktioniert", wird ausgetauscht. Eine Haltung, die sich in vielen, vielen Neuanfängen in seinem Lebenslauf zeigt.

Denn bevor Saur vor zwanzig Jahren das erste Mal einen Bogen in der Hand hielt, drehte sich sein berufliches Leben darum, Werkzeuge, Arbeitsprozesse oder Autos zu optimieren. Saur wuchs als einer von elf Geschwistern auf einem Selbstversorgerbauernhof in Waldhausen, einem Dorf bei Aalen mit damals einer Handvoll Einwohnern auf. Das weiche schwäbische "sch" sucht sich noch heute seinen Weg in Saurs Worte. Er sei damals einfach, aber zufrieden aufgewachsen, erzählt er. Als Kind ist er viel mit seinen Brüdern draußen beim Fallenstellen, fängt Wühlmäuse, Maulwürfe und Elstern, um beim Gemeindepfleger dafür "richtig viel Geld zu bekommen". Je nach Tier mal 30 Pfennige, mal eine Mark - eine Semmel kostete damals fünf Pfennige. Ein bisschen sei seine Kindheit wie bei Huckleberry Finn gewesen. "Das war auch unsere Literatur." Der Einfluss, den diese Bücher auf ihn gehabt haben, klingt noch heute an, wenn er sagt: "Ich habe mein Leben so eingerichtet, dass mich niemand schiebt." Geschoben werden heißt bei Saur fremdbestimmt sein, keinen Einfluss darauf zu haben, womit er seine Zeit verbringt. Es ist das Gegenteil von dem, was er will.

Nach der Schule beginnt er eine Werkzeugmacherlehre bei einer Firma wenige Kilometer von Waldhausen entfernt, ein "unglaublich spannender Beruf", mit dem er auf die eine oder andere Weise in den kommenden Jahren sein Geld verdienen wird. Durch die Lehre entdeckt er die Faszination am Tüfteln, dem Verbessern von Bisherigen und wird - noch keine 18 Jahre alt - als Anlagebauer auf Montage durchs ganze Land geschickt. Doch so will er nicht lange leben, "das war mir schnell klar". Er lernt in dem "katholischen" Dorf, wie er Waldhausen nennt, eine Frau kennen. Es wird geheiratet und bald kommt die Scheidung. Danach habe er sich in seinem Geburtsort "unwohl" gefühlt.

Also zieht Saur nach Stuttgart, es sind die wilden 1970er-Jahre. Er arbeitet nachts in Lokalen, in denen schöne Frauen noch schöner tanzen und reiche Männer am frühen Morgen ärmer wieder nach Hause gehen, ohne dass sie das groß zu stören bräuchte. "Ich habe da Leute kennengelernt, die man tagsüber so auf der Arbeit nicht kennenlernt." Ein Bekannter bringt ihn letztlich auch in Stuttgart wieder zum Tüfteln. Saur entwickelt ein "Patentchen", wie er es nennt, mit dem Emaille-Badewannen in der Wohnung repariert werden können, ohne dass - wie davor üblich - ein aufwendiger, neuer Guss der Wanne in einem Lager angefertigt werden muss. Saur gründet mit einem jungen, ehrgeizigen Kaufmann eine Firma, verkauft gebietsweise die Lizenzen für das Verfahren der Reparatur. Es ist eine Goldgrube. Dabei geht es um so viel Geld, dass Freundschaft und Anstand schnell vergessen sind. Saur überwirft sich mit seinem nun ehemaligen Partner, der ihn aus dem Betrieb bekommt, und schwört sich: "Nie wieder wird dir einer nahekommen." Es ist der "Bruch in meinem Leben", sagt Saur. Fortan gab es keine Freunde mehr, nur "Kumpel". Vertrauen will Saur niemandem mehr.

Wieder braucht Saur einen Tapetenwechsel. Also zieht er 1985 nach München. Dort richtet er Autos her, deren TÜV bald abläuft, um sie anschließend wieder teurer weiterzuverkaufen. Bis er mit knapp 40 Jahren der perfekten Maschine begegnet, die ihn seither nicht mehr loslässt. Saur ist mit Bekannten auf einem "Junggesellenurlaub" in die Nähe von Pisa. Eigentlich wollte er dort segeln lernen, aber dafür hätte er früh aufstehen müssen, zu früh für seinen urlaubenden Geschmack. "Und für alles andere war es zu heiß, das Bogenschießen war im Schatten", erinnert er sich. Also hält er das erste Mal im Schatten einer toskanischen Pinie eher zufällig einen Bogen in der Hand, katapultiert den ersten von seither ungezählten Pfeilen von der Sehne und hört das Sirren des Pfeils, der die Luft zerschneidet. Sofort ist ihm klar: "Das ist mein Sport." Es wird sein Leben, sein womöglich letzter Neuanfang.

Wieder aus dem Italienurlaub zurück, macht er sich sofort auf die Suche nach einem Sportverein. Das Bogenschießen wurde "meine Erfüllung", wie er sagt. Von da an gibt ihm das Bogenschießen "ein besonderes Selbstwertgefühl".

In den nächsten Monaten trainiert Saur wie ein Besessener, die Zeit - "niemand schiebt mich" - kann er sich als freiberuflicher Autoschrauber frei einteilen. Er richtet jetzt weniger Autos her. Damit er sich das Leben in München weiter leisten kann, hat er eben "die Qualität der Autos gesteigert". Nach drei Monaten schießt er besser als seine Vereinskollegen, die schon seit Jahren trainieren. Er findet einen Sponsor, der ihm seine Ausrüstung zahlt und später auf Teilzeit als Fachberater in seinem Sportgeschäft anstellt. Mehr Zeit will Saur nicht arbeiten, des Trainings wegen. Nach zwei Jahren ist er Deutscher Meister, fährt zu Weltmeisterschaften, gewinnt kleine und große Turniere. Sätze wie "bei einem Turnier in der Schweiz habe ich zwei Ringe unter Weltrekord geschossen", fallen nebenbei, wenn Saur von dieser Zeit erzählt. Im Flur in seiner Oberföhringer Wohnung hängt eine Scheibe, auf die er bei der Bezirksmeisterschaft im Dezember 1991 geschossen hat. "298 Ringe" sind dort vermerkt, so viele hat Saur mit 30 Pfeilen gesammelt; 300 sind das Maximum. Es wäre Weltrekord gewesen, sagt Saur, nur habe man das damals nicht weltrekordfähig gemeldet. Saur tüftelt nun nicht mehr an Arbeitsprozessen, sondern an seiner Körperhaltung beim Bogenspannen, am richtigen Anvisieren.

In seinem Leben habe er insgesamt 125 "Robin Hoods" geschossen. So heißt es, wenn der Pfeil sich auf einen bereits in der Scheibe steckenden aufspießt. Es ist für Bogenschützen der perfekte Schuss. Doch irgendwo verliert Saur auf der Jagd nach den Ringen etwas, was er am Anfang so liebte am Bogenschießen. Er trainierte nicht mehr für sich, sondern "um besser als der oder der zu sein". Erst als er mit dem "Hightech"-Bogenschießen aufhörte und sich den traditionellen "Langbogen" zuwandte, fand er wieder das Sirren in der Luft. Heute gibt Saur Kurse zum Bogenbauen und Bogenschießen für Schulklassen, an der Volkshochschule, dem Haus der Eigenarbeit und der Ludwig-Maximilians-Universität. Er hat drei weitere "Patentchen" angemeldet für Werkzeuge, die das traditionelle Pfeilbauen vereinfachen. Sie liegen in seiner Werkstatt im Keller.

Dort redet Saur von seiner Erfüllung. Es sieht aus, als würde er tanzen. Spricht er zum Beispiel über die Bogen von einstigen Reitervölkern, krümmt er seinen Oberkörper in Richtung Knie, klappt darunter seine Arme ein, um zu verdeutlichen wie diese Bogen erschlaffen, wenn sie nicht mit einer Sehne unter Spannung gehalten werden. Die sogenannten Wurfarme des Bogens sind dann nach außen gekrümmt, wie zwei lange, lockige Haare. Erst mit dem Aufziehen der Sehne, dem Tillern, beugt sich der Bogen nach hinten. Während Saur vom Tillern erzählt, richtet er sich auf bis er ganz aufrecht in seiner Werkstatt steht. Wie beim festen Stand speichert die Waffe auf diese Weise bereits Energie, bevor die Finger die Sehne nach hinten ziehen. Es ist ein Beispiel für alles, was Saur fasziniert. Eine simple, intelligente und funktionierende Lösung für das schwierige Problem, dass ein Bogen für Reiter platzbedingt kürzer als seine aus dem Stand geschossenen Verwandten sein muss und der Pfeil trotzdem genauso weit und schnell fliegen soll.

Und jetzt? Steht der nächste Umzug an? Auf Saurs Küchentisch liegt ein Buch, das ihm seine Frau aus der Bibliothek mitgebracht hat. "Es ist nie zu spät, neu anzufangen", steht auf dem Cover. "Eigentlich", sagt Saur, "habe ich seit meinem 40. Lebensjahr keine Probleme mehr gehabt." Seit jenem Tag, an dem er im Urlaub zufällig zum ersten Mal einen Bogen in der Hand hatte. Ist er im Keller von seinen Holzlatten, die er zusammenfügen und zu Bogen bauen wird, umgeben, wirkt er glücklich, ganz bei sich. Bei jedem anderen würde man sagen, dass da jemand angekommen ist. Aber bei Karl Saur liegt ja dieses Buch auf dem Küchentisch.

Nächste Folge: vom Großhandelskaufmann im Erdinger Land zum Circus Krone

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Quelle:
SZ vom 03.09.2018
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