SZ-Serie "Der Sound der Stadt", Folge 23:Die Stimmen des Herrn

Murmelnde Rosenkranz-Routine, das Klacken des Opferstocks oder der machtvolle Klang der Orgel: Nirgendwo in München kann man dem Nachhall länger lauschen als im Liebfrauendom

Von Jutta Czeguhn

Dünnes Licht fällt durch die hohen, schlanken Fenster des Liebfrauendoms. Im Halbdunkel sitzen ein paar Dutzend ältere Frauen, sie beten mit andächtiger Routine den Rosenkranz.

Gegrüßet seist du, Maria, voll der

Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter den . . .

In der besonderen Akustik der Kathedrale verlieren die Worte des zeitlosen Gebetes ihre Deutlichkeit. Der monotone Singsang scheint von überall reflektiert zu werden, der Marmorboden, die Holzbänke, die achteckigen Pfeiler wirken wie Teflon. Der Hall setzt sich in jede noch so winzige Pause zwischen den Sätzen, ja, sogar den Silben, dehnt Konsonanten, zieht Vokale. Dann verrührt sich alles und wird zu Klangkonfitüre:

Uuunnnseresssstooodesssaamennnnn.

Die meisten Menschen, die an diesem Spätnachmittag dem Ave Maria in der Frauenkirche lauschen, sind Touristen. Menschen, die den Dom, das Premium-Wahrzeichen in der Silhouette Münchens, abhaken wollen und zufällig zur Gebetsstunde hereingeschneit sind. Nun stehen sie hinter den Absperrungen, die die Domschweizer wie einen Schutzring um die Betenden gezogen haben. Schilder mahnen höflich zu Ruhe. Doch mitleidlos schrillt ein Wecker hinein in die andächtige Stimmung, als wollte er seine metallenen Spitzentöne im imposanten Hallraum testen. Der Handyklingelton lässt alle zusammenfahren - panisch greift sich ein Mann in die Jackentasche und bringt das Ding mit einiger Mühe zum Schweigen. Dabei entgeht ihm der Blick einer älteren Frau. Ein vielsagender Blick. Würde man ihn in Worte übersetzen, müsste die Frau wohl gleich zum Beichtstuhl abbiegen. Mit Wut im Körper aber verschwindet sie in der Gruppe der Betenden.

Gott ist besonders in den Metropolen der westlichen Welt auf dem Rückzug, die Zahl der Kirchgänger sinkt stetig. Gotteshäuser werden zunehmend zu Museen, sind zu Zielen bestenfalls kunstgeschichtlichen Interesses geworden. Oder zu Auftankstationen für dezibelgeplagte Großstadtmenschen, die sich zwischen den dicken Kirchenmauern ein paar Momente kühler Stille erhoffen. Doch noch behauptet sich eine Kathedrale wie die Frauenkirche nicht nur vertikal in Münchens Skyline. Auch in der Soundlandschaft der Stadt ist der Dom ein Fixpunkt, beschert sie München eine Diversität an Geräuschen, mit denen man sich in die Vergangenheit durchhören kann. Da ist zum Beispiel Susanna.

"Susanna" hängt in rund neunzig Metern Höhe im Glockenstuhl des Nordturms und wiegt knapp acht Tonnen. Gegossen 1490, wird sie auch Salveglocke genannt und ist unter den Glocken im Domgeläut so etwas wie der Star. Es ist faszinierend, sich vorzustellen, dass ihr tiefer, warmer Schlagton "a" schon die Münchner des ausgehenden 15. Jahrhunderts zur Messe gerufen hat. Noch älter sind nur ihre Kolleginnen - die "Winklerin", gegossen 1451, oder die Frühmessglocke, die aus dem Jahr 1442 stammt. Welche Geräusche wohl damals den Stadtraum prägten? Das Knallen der Kutscherpeitschen, das Klappern von Pferdehufen, die Rufe der Händler, Kriegsgeschrei, Kanonendonner? Glocken waren einst die Zeitansager und Signalgeber, sie verkündeten große politische Ereignisse, warnten vor heranziehender Gefahr. Obwohl längst automatisiert, hat der Münchner Dom heute immer noch eine ausgefeilte Läutordnung. Seine Glocken schwingen morgens, mittags und abends. Dabei ist ihr Klang in steter Gefahr, vom dichten Lärmteppich der Großstadt verschluckt zu werden. An den Hochfesten aber, wenn alle zehn Domglocken loslegen, vibriert das Trommelfell der Münchner City.

Ein Dombesuch am Vormittag: Klack macht es beim Aufschlagen der 50-Cent-Münze. Wer mogelt und nur ein Zehnerl in den Einwurfschlitz des Kerzenspenders steckt, den verrät das etwas hellere Klick. Viel Zeit hat man nicht, sich über den Klang des Geldes und des Geizes Gedanken zu machen, denn Domorganist Hans Leitner ist die Pünktlichkeit selbst. Gemeinsam steht man erst mal da und lauscht dem Grundrauschen der Kathedrale. Eben haben die Putzfrauen ihren Dienst beendet, die ersten Schülergruppen drängen durch das Seitenportal, lassen ihre Turnschuh-Sohlen auf den spiegelnden Steinfliesen quietschen. Die Pubertätszombies tauchen erst aus ihren Smartphone-Universen auf, als sie beim berühmten Teufelstritt stehen. Der Legende nach hat der Höllenfürst dort fuchsteufelswild in den Boden gestampft, weil er sich von Dom-Baumeister Jörg Ganghofer hereingelegt fühlte. Das wird nun kichernd nachgespielt. Hops! Und noch mal: Hops! Beim Teufel einst hörte sich das wohl theatralischer an: zisch, brutzel, peng!

Kirchenmusiker und Domvikar Monsignore Leitner, 55, schmunzelt, er kennt den Klang der Kathedrale genau. Seit 2003 ist der gebürtige Traunsteiner Domorganist, zuvor hatte er dieses Amt elf Jahre lang in Passau inne, wo er die größte Kirchenorgel der Welt spielen durfte. Nun hat es Leitner mit der größten Hallenkirche der Welt zu tun. Alle drei Schiffe des gotischen Kirchenraums haben die gleiche Höhe, der Dom umschließt mit seinen Ausmaßen von 217 000 Kubikmetern eine riesige Menge Luft. An keinem Ort in München, könne man deshalb eine längere Nachhallzeit erleben, sagt Leitner. Erst nach elf Sekunden verhallt das Wort eines Gebetes, der Ton einer Orgelpfeife. "Aber kommen Sie, das erkläre ich besser dort oben."

Der Domorganist schließt eine kleine alte Holztür im Eingangsbereich auf, zu seinem Arbeitsplatz geht es über 60 steinerne Stufen eine steile Wendeltreppe hinauf. Nicht nur Leitner gerät ins Schnaufen. "Der BR war mal hier und hat meinen Atem beim Hochgehen aufgenommen", erzählt er. Durch zwei Vorräume, einer davon mit einer schallresorbierenden Wand, gelangt man auf die Chorempore mit der Hauptorgel. Das Instrument stammt aus der Werkstatt des Regensburger Orgelbaumeisters Georg Jann und beschallt erst seit 1994 den Liebfrauendom. Die Orgel ist die sechste in der mehr als 500 Jahre währenden Geschichte der Kathedrale. Die Zahlen hören sich imposant an: 95 Register, vier Manuale, 18 Meter hoch, die größte Pfeife misst mehr als zehn Meter, die kleinste knapp vier Millimeter.

Während man noch im Staunen verharrt, setzt sich Monsignore Hans Leitner leise an den Spieltisch, der mit einem Telefon ausgestattet ist, dem direkten Draht in die Sakristei. Leitner zückt und dreht einen Schlüssel. Das hört sich ein wenig an wie der Anlasser eines Autos, dann drückt er diverse Knöpfe, plink, plank, plonk, und der Domorgel-Motor springt prompt leicht brummend an.

Die Registertasten auf dem Spieltisch tragen wundervolle Namen. Wie klingen die "Bombarde", die "Trompette", das "Gemshorn" oder der "Cymbelstern"? Geduldig führt Hans Leitner die Klänge vor. Unten in den Gängen des Doms bleiben die Menschen stehen, richten Augen, Ohren und Smartphone-Kameras auf die Empore. Doch es soll noch besser kommen, der Organist hat Noten mitgebracht: Max Regers "Introduktion und Passacaglia d-moll", die er nun gleich in diese schwierige Raumakustik schicken wird. Mit der Domrenovierung in den Jahren 1990 bis 1994 kam nicht nur die neue Orgel in die Kirche, sondern auch der Marmorboden. Seither habe sich der Hall noch wesentlich vergrößert, sagt Leitner. Bei schnellen Passagen oder komplexen rhythmischen Gebilden überschlage sich alles. "Man kann sich ein wenig damit behelfen, dass man in Richtung Zeitlupe spielt".

Das Konzert hat begonnen, Regers Musik prasselt von der Empore wie ein Feuerwerk, fliegt dröhnend durch die Säulenhallen des Kirchenschiffs, vibriert in den Gitterstäben der Seitenaltäre. Schwillt an. Schwillt ab. Ein Klanggewitter berauscht, drückt einen fast zu Boden. Sollte sich der Mensch nicht klein fühlen in diesen riesigen gotischen Kathedralen? Ja, winzig. Und doch durch die Musik erhaben.

Am Samstag lesen Sie: Der Sound der Stadt, wie er den Münchnern auf der Zunge liegt

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