SZ-Serie: Der Sound der Stadt:Bauch-Gefühl

Kühlmaschinen, Dieselmotoren, Blondinen auf Stöckelschuhen und Champagnerkorken: Im Schlachthof spielt der ewige Reigen von Leben und Tod, im Viehhof erklingt die Melodie der großen Freiheit

Von Elisa Holz, Isarvorstadt

Der Klang vieler Orte hat keinen Anfang und kein Ende. Schon gar nicht, wenn es sich um den Schlachthof und den Viehhof handelt. Im Schlachthof spielt der ewige Reigen von Leben und Tod, im Viehhof erklingt die Melodie der großen Freiheit. Entsprechend reich ist die Klangwelt dieses besonderen Ortes inmitten in der Stadt. Wann und wo also anfangen, warum nicht um morgens um vier, wenn die Nachtruhe dort vorbei ist?

Um diese Zeit wird der Metzgermeister Andreas Gaßner, an der Zenettistraße zuhause, vom Rauschen geweckt, das durch das offene Schlafzimmerfenster dringt. Dann, wenn der Zugverkehr Richtung Oberland Fahrt aufnimmt. Aber so wie Schönheit im Auge des Betrachters liegt, so ist auch Wohlklang subjektiver Wahrnehmung unterworfen. "Ich stelle mir immer vor, dass das die Meeresbrandung ist", sagt Gaßner, den die akustischen Wellen dann so gegen 4 Uhr an seinen Arbeitsplatz in den Viehhof spülen, wo die Familie seit 23 Jahren eine große Metzgerei betreibt.

SZ-Serie: Der Sound der Stadt: Kein schöner Land: Metzgermeister Andreas Gaßner liebt die Atmosphäre auf dem Gelände des Schlachthofes.

Kein schöner Land: Metzgermeister Andreas Gaßner liebt die Atmosphäre auf dem Gelände des Schlachthofes.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Ihrem alten Viertel Schwabing mussten sie damals den Rücken kehren. Die feinnervigen Bohémiens hatten keinen Sinn für den Lärm, der mit der Zubereitung von Leberkäse und Würsten einhergeht. Wenn der Cutter wie eine hochtourige Moulinette losheult und der Wurstbrei anschließend von der Maschine - "Tschip, tschip, tschip" - in die Därme gedrückt wird. Der Klang rund um die Metzgerei wird auch durch Menschen wie Andreas Gaßner selbst geprägt, die zu den mittlerweile seltenen Münchnern gehören, deren Sprache mittels Auslassung und Akzentuierung insbesondere der Vokale den perfekten Dreiklang von Grant, Humor und herzlichem Charme mühelos intonieren. Ein typischer Gaßner-Satz hört sich so an: "Bschis werd ned ozoagt. Aber löffeln lass i mi nua oamoi". Frei übersetzt heißt der Satz, dass sie hier im Schlacht- und Viehhof immer noch nach ihren eigenen Regeln spielen.

So hört sich das Areal auch an, das 1878 nach den Plänen des Hygienikers Max von Pettenkofer und des Stadtbaurats Arnold Zenetti errichtet wurde. Nach Letzterem ist die Straße benannt ist, die den heute als solchen nicht mehr genutzten Viehhof vom Schlachthof trennt, der seinerseits nach wie vor in Betrieb ist. Gemeinsam aber ist der sogenannte Bauch von München ein riesiger Resonanzkörper mitten in der Stadt. Er klingt wie der Maschinenraum eines großen Tankers, der im Häusermeer zwischen Sendling und Isarvorstadt vor Anker liegt. Tag und Nacht surren die Kühlaggregate, die Generatoren und Ventilatoren, die das Fleisch, den Fisch und überhaupt alle guten Lebensmittel frisch halten, die von hier aus verschifft werden, um im Bild zu bleiben. Der Bauch brummt.

SZ-Serie: Der Sound der Stadt: Zwei Welten, eine Adresse: Die Stühle unter Palmen im Viehhof vermitteln geradezu mediterranes Flair.

Zwei Welten, eine Adresse: Die Stühle unter Palmen im Viehhof vermitteln geradezu mediterranes Flair.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Männer dröhnen tief, Frauen lachen hoch, Gläser klirren

Am Vormittag klingt das Areal mehr nach Maschine als nach Tier, Kühe hört man allenfalls gegen Nachmittag. Ihr Muhen klingt dann, vorsichtig gesagt, ziemlich besorgt. Die Tiere im Transporter aber, die schon am frühen Morgen angeliefert werden, sind in banger Erwartung beängstigend still. Auch Vögel gibt es nicht viele. Nur ein Rotkehlchen-Paar hat sich am Eck des ehemaligen Rinderstalls im Viehhof eingenistet. Und das typische Gekreisch der Isarmöwen, seitdem auf dem Schlachthof und dem Viehhof dank immer strengerer Hygienevorschriften wirklich nichts mehr zu holen ist, gehört auch längst der Vergangenheit an. Wegen dieser Vorschriften müssen die Viehfahrer auch im hinteren Eck des Viehhofes ihre Laster gründlich ausspritzen. Mit Hochdruck zischt das Wasser der Dampfstrahler auf die Gitter und Metallrampen - ein scharfes Geräusch, das sehr gut zum Geruch des daneben befindlichen Misthaufens passt. Mit einer sanften Brandung hat das auf jeden Fall nichts mehr zu tun. Währenddessen rattern Dieselmotoren und Kühlaggregate der Lkw, die mit Kisten voller Fleischwaren beladenen Rollwagen holpern über das Kopfsteinpflaster. Von fünf bis sieben Uhr morgens ist es hier "rücksichtslos laut", wie Gaßner grinsend konzediert.

SZ-Serie: Der Sound der Stadt: Die Maschinen gehören zum Orchestrion in der Metzgerei.

Die Maschinen gehören zum Orchestrion in der Metzgerei.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Am Nachmittag halten Vieh- und Schlachthof kurz eine akustische Siesta, bevor dann die große Sause steigt. Schon am späten Nachmittag braust die ganz spezielle Schlachthof-Schickeria mit ihren Bentleys und Ferraris herbei. Autotüren knallen, Damen in hochhackigen Schuhen stöckeln über den Asphalt zum Fischrestaurant "Atlantik" an der Einfahrt zum Schlachthof, in dem man Champagner und Wein flaschenweise und das Bier im Fass ordern muss. Hier wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Die Männer dröhnen tief, die Frauen lachen hoch, die Gläser klirren. Und DJ Raimund weiß, was Laune macht: "Volare, oohh". Gassenhauer, Disko, Loveboat-Sound für gut gebräunte Menschen mit Föhnfrisuren. "Ein Ort der Freude", sagt Gaßner, der es hier auch gerne krachen lässt. Aber Misstöne schätzt auch der Wirt nicht: Wer nicht singen kann, darf nicht ans Karaoke-Mikrofon.

SZ-Serie: Der Sound der Stadt: Beim Säubern des Viehtransporters mit dem Dampfstrahler zischt es gewaltig.

Beim Säubern des Viehtransporters mit dem Dampfstrahler zischt es gewaltig.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

An schönen Sommerabenden flirrt die Luft unter dem freien Himmel dieses weiten Geländes. Gesprächsfetzen, Gelächter, Gebrüll. Hip-Hop aus den Ghettoblastern der Sprayer. Die Kugeln in den Farbdosen klackern, mit leisem Zischen sprühen sie ihre Graffiti an die Mauern neben den Gleisen, dem Quai des Areals. Aus den gekippten Fenstern des ehemaligen Schweinestalls, in dem einige Bands ihre Übungsräume haben, dringt Gitarrengeschrammel und ein Schlagzeug im 6/8-Takt. Weiter hinten groovt Reggae aus dem Doppeldecker-Bus einer Brauerei, die während der Sommermonate den Biergarten im Viehhof beschallt, der eigentlich als Anhängsel des Open-Air-Kinos gedacht war. In Wirklichkeit verhält sich das aber natürlich umgekehrt.

Der Viehhof und der Schlachthof sind unerwartet gesellige Orte, in denen man gerne auf Zuruf kommuniziert. Keiner nimmt hier ein Blatt vor den Mund. Wie rau und ungezwungen München einst geklungen hat, das kann man hier noch hören. Denn die alte Besatzung ist noch an Bord. Menschen, für die es beinahe eine Auszeichnung ist, wenn man ihnen quer über den Platz Beschimpfungen wie "Depp" oder "Grattler" zuruft. Sorgen muss man sich, das weiß Andreas Gaßner, aber erst dann machen, wenn diese wenig schmeichelhaften Bezeichnungen ausbleiben.

Wenn es nach dem Metzgermeister geht, soll sich am Klang dieses Biotops der ganz eigenen Art am besten nichts ändern. Deshalb freut sich Gaßner auch, dass demnächst wohl das Volkstheater sein Nachbar sein wird - als Lärmschutzwand gegen den Wandel gewissermaßen: "Dann herrscht hier eine Ruhe." Das meint er natürlich nur im übertragenen Sinne. Im Viehhof zumindest ist es nämlich nie wirklich ruhig. Glücklicherweise.

Am Mittwoch lesen Sie: Der Sound der Stadt in den Laboren der Akustikexperten von Müller-BBM

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