SZ-Serie: Aus den Augen, noch im Sinn, Folge 12:Gut gemeint, früh gekippt

Beim Bau der Messestadt Riem verfolgte das Rathaus ehrgeizige ökologische Ziele. Die Autos sollten weg von den Straßen, unter die Erde. Das rollierende Parkplatzsystem im Untergrund wurde aber nach Protesten der Anwohner schon nach kurzer Zeit aufgegeben

Von Renate Winkler-Schlang

Messestadt Riem in München, 2019

Fast autofrei - so sieht man die Straßen selten. Oft gibt es oberirdisch Chaos.

(Foto: Florian Peljak)

Die Messestadt Riem war schon preisgekrönt, ehe es sie überhaupt gab: Die "Ökologischen Bausteine", die dem Konzept der Trabantenstadt auf der Landesbahn des früheren Flughafens zugrundegelegt werden sollten, fanden international Resonanz. Das Planungsreferat hatte sich dafür inspirieren lassen von der Agenda 21, die 1992 auf der Umweltkonferenz von Rio de Janeiro verabschiedet worden war. Die Stadt war zudem bereits 1991 dem Klimabündnis westeuropäischer Städte beigetreten. Es gehe um "lokale Verantwortung" für die globalen Anforderungen, schrieb die damalige Stadtbaurätin Christiane Thalgott in ihrem Vorwort zu dem Kriterienkatalog fürs neue Viertel. Sechsteilig war das Konzept, es beinhaltete als "ökologischer Baukasten" Regeln für die Freimachung des Geländes und die Abfallwirtschaft ebenso wie für den künftigen Freiraum, den Umgang mit Wasser und mit Energie - vor allem aber für den Verkehr.

Brigitte Sowa in ihrer Tiefgarage in Riem, Georg-Kerschensteiner-Straße 50

Brigitte Sowa findet es heute ungerecht, dass nun alle dieselbe Nutzungsgebühr von rund 33 Euro monatlich zahlen.

(Foto: Florian Peljak)

"Ziel des Verkehrskonzeptes ist es, Emissionen wie Lärm und Abgase zu vermindern und eine hohe Freiraumqualität zu sichern": Um das zu erreichen, setzte die Stadt dort von Anfang an auf Verkehrsverlagerung und Verkehrsvermeidung. Ein Paradies für Nutzer von U-Bahn, Bussen und Rädern, für Fußgängern und damals noch exotische Car-Sharer sollte das Viertel werden. Grüne, attraktive und vor allem kurze Wege vom Wohnen zum Arbeiten oder Einkaufen sollten von vornherein möglichst keinen auf die Idee bringen, in ein Auto steigen zu wollen.

Kurze Wege wollte man erreichen durch "dichte Bauweise"; die Straßen sollten schmal und frei von parkenden Autos sein. Wenigstens oberirdisch "autofrei" - das war der Traum. Stellplätze wollte man unter die Erde verbannen, konzentriert in Parksammelgaragen entlang der Haupterschließung. Und noch eine Neuerung: Für Parkraum sollte nur zahlen müssen, wer ihn brauchte. "Kostenmäßige Entkoppelung" nannte die Stadt das.

Lehrer-Wirth-Straße in Riem so zugeparkt, dass Begegnungsverkehr nicht möglich ist. Die Bilder gehören zur Geschichte von Brigitte Sowa in ihrer Tiefgarage.

Bereits im Februar 2000 wurde das rollierende Parkraumsystemim Stadtrat nach kurzer Probezeit beerdigt.

(Foto: Florian Peljak)

Obendrein sollte nicht für jeden vorhandenen Wagen ein Tiefgaragenplatz hergestellt werden: Die Stadt wollte sich die Tatsache zunutze machen, dass ohnehin etwa ein Viertel aller Autos "auf Achse" ist - unterwegs auf den Straßen, parkend am Arbeitsplatz oder in einem Urlaubsland. Das "rollierende System" wurde 1998 vom Stadtrat beschlossen: Ein Bewohner erwirbt zwar das Recht, sich in der Tiefgarage einen Parkplatz suchen zu dürfen, nicht aber das Recht auf "seine" exklusiv immer gleiche Ecke. Doch die visionären Planer hatten am Ende die Rechnung ohne die auf ihr Fahrzeug angewiesenen und auf ihre mobile Bequemlichkeit pochenden neuen Bewohner - und vor allem ohne CSU und SPD gemacht.

SZ-Serie: Aus den Augen, noch im Sinn, Folge 12: Stadtbaurätin Christiane Thalgott hatte das Projekt verteidigt.

Stadtbaurätin Christiane Thalgott hatte das Projekt verteidigt.

(Foto: Claus Schunk)

Die meisten Bewohner waren nicht an den östlichen Stadtrand gezogen, weil die Konzepte so schön waren, sondern weil es dort schöne Wohnungen gab. In den ersten Monaten war die verheißene U-Bahn-Anbindung für die Pioniere noch nicht da. Als die ersten Möbelwagen kamen, war aber das neue Konstrukt noch gar nicht ausgereift, erinnert sich Elisabeth Weber, eine Bewohnerin der ersten Stunde bei Terrafinanz. Die ersten Siedler nannten stets ihren Bauträger, wenn sie beschreiben wollten, wo sie wohnen.

Familie Weber hatte dem Bauträger einen Betrag berappen müssen für das Recht auf Parkplatz-Suche. Da in dieser frühen Phase aber noch kein Betreiber für die Gemeinschaftsgarage aufgetan war, wussten sie beim Notartermin noch nicht, wie hoch die monatliche Gebühr würde. Sie kauften die Katze im Sack. Versprochen worden sei aber viel, unter anderem eine eigene Waschanlage. Gekommen sei die nicht.

München, Trudering, BA,

Auch der Truderinger Stadtrat Herbert Danner von den Grünen sprach sich für das Parkraumsystem aus.

(Foto: Angelika Bardehle)

Mit dem Unternehmer Max Aicher hat die Stadt dann einen Betreiber gefunden, der die Garagen in der Autopark Riem GmbH (APR) bis heute verwaltet. Doch auch Pionierin Brigitte Sowa hatte viele Fragen: Fünf Seiten schrieb sie an Stadtbaurätin Thalgott. Die wichtigste: Warum "rollieren" die Bewohner von München-Modell und geförderten Wohnungen, nicht aber die von frei finanzierten Eigentumswohnungen? Auch andere klagten, das zeigt ein Blick auf zahlreiche Zeitungsartikel von damals: Unterschiedliche Bauträger hatten offenbar dieses abstrakte Recht auf Stellplatzsuche verschieden hoch angesetzt, die einen zahlten 9000, andere bis zu 22 000 Mark.

Manche dachten irrtümlicherweise, sie hätten einen Platz gekauft - zahlten dafür sogar unwidersprochen Grundsteuer ans Finanzamt. Der Betreiber wurde auch als "Monopolist" gebrandmarkt, der womöglich "Fantasiepreise" verlangen könne. Dafür hatte man doch nicht die Innenstadt verlassen, um nun abends hier draußen nach einem Parkplatz suchend rumzukurven, hieß es. Die Leute wollten nicht jedes Mal für den Partner auf einem Zettel notieren, wo die Familienkutsche steht. Elisabeth Weber erinnert sich an eine Nachbarin mit verletztem Kind, die auf dem Weg zum Kinderarzt in einem anderen Viertel erst einmal panisch ihren Wagen suchte.

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Einige sparten sich das Geld für die Tiefgarage, obwohl sie ein Auto hatten, und parkten oben. Noch lange waren die Straßen nicht offiziell gewidmet und niemand konnte den wild zwischen Baustellen abgestellten Wagen einen Strafzettel hinter die Windschutzscheibe klemmen. Für die unzähligen Kinder wurde die Gegend, die "autofrei" sein sollte, unübersichtlicher und weniger ungefährlich als erträumt. Zudem war nicht von Anfang an geregelt, wo Besucher hinsteuern sollten. Da die Messestadt eine Insel ist zwischen Landschaftspark auf der einen und Messe auf der anderen Seite, konnte angereiste Verwandtschaft nicht ins Nachbarquartier ausweichen. "Sind wir unbesuchbar?", laute eine anklagende Frage bei einer der vielen Versammlungen, geleitet vom Bürgerbeteiligungsbüro Messestadt Riem Dialog.

Elisabeth Weber nahm Stadtbaurätin Christiane Thalgott als "echte Überzeugungstäterin" wahr: "Die kam mit dem Fahrrad herausgestrampelt zu unseren Diskussionen, ihr Referent mit der Dienstlimousine hinterher", erinnert sie sich. Eva Regensburger, im Planungsreferat seit Anbeginn mit der Messestadt befasst, weist darauf hin, wie wirklich intelligent und zukunftsweisend das alles gedacht war. Sie macht aber auch auf die mit eingeplante "Rückfallebene" aufmerksam: Nachrüstmöglichkeit für die restlichen Plätze in Parkhäusern war vorgesehen.

Brigitte Sowa erinnert sich, dass sie auf all ihre Fragen von Thalgott keine Antwort bekam, denn das Thema hatte sich überraschend schnell überholt: Der junge Stadtrat Christian Baretti (CSU) forderte ein Ende dieses Experiments. Alsbald wurde die CSU unterstützt von der SPD. Lediglich die Grünen, allen voran Herbert Danner, der sich gemeinsam mit seinem Kollegen Helmut Steyrer für das innovative Konzept stark gemacht hatte, wollten dem Umweltschutz eine Chance geben. Sie warfen den andern Parteien Populismus und Panikmache vor. Doch die Mehrheit im Stadtrat beendete bereits nach wenigen Monaten, im Februar 2000, das rollierende System - nicht zuletzt deshalb, weil sich die Bauträger Sorgen machten ums wenig autofreundliche Image des zeitweise nur zögerlich vermarktbaren Viertels, wie Georg Kronawitter (CSU) sich erinnert.

Brigitte Sowa findet es heute ungerecht, dass nun alle dieselbe Nutzungsgebühr von rund 33 Euro monatlich zahlen, unabhängig davon, ob man sich zu Beginn ein Nutzungsrecht gekauft hat oder nicht. Elisabeth Weber berichtet, mancher habe nun auch einen Platz für den Zweitwagen, das Auto des erwachsenen Kindes oder für etwaige Besucher gemietet. Sowa sagt, insgesamt funktioniere das Betreibermodell, die Preise seien stabil, es werde regelmäßig gereinigt.

Oben aber stünden, klagt Weber, immer noch die Blechkisten derer, die sich das Geld für die Garage sparen. Dass sie seit Einführung der ersten "Blauen Zone" 2005 nur in wenigen markierten Bereichen für begrenzte Zeit parken dürfen, ficht sie ebensowenig an wie viele Besucher der Messe oder der Riem Arcaden, denn die kommunale Parkraumüberwachung verirre sich viel zu selten in die Messestadt. Das hat Folgen: Die Straßenränder sind verstopft, Begegnungsverkehr ist oft schwierig. Kürzlich musste die Polizei die Maria-Montessori-Straße bei einem Brand erst für die Feuerwehr freimachen. Viele Autos weichen auf die Bürgersteige aus. Gehe es den Fahrern dort nicht schnell genug, werde schon mal ein Fußgänger oder Radler weggehupt. "Oben Wildwest", sagt Weber.

Die Tiefgarage des ersten Bauabschnitts aber kommt nun in die Jahre: Wie die Kosten für eine etwaige Sanierung von der APR, die laut Regensburger die Garage bis 2048 im Erbbaurecht überlassen bekam, umgelegt werden, sei, so Sowa "eine ganz heiße Frage". Sowa hätte, rückblickend betrachtet, das rollierende System zumindest "etwas länger ausprobiert". Manche Nachbarn sehen sie als diejenige, die es gekippt habe, das aber sei falsch: "Ich habe damals nur Fragen gestellt."

Insgesamt verwaltet die Firma Max Aicher heute, wie Bereichsleiter Christian Schwab berichtet, rund 2850 Parkplätze. Sie befinden sich in den vier großen Tiefgaragen sowie in den beiden nachgerüsteten Parkhäusern an der Georg-Kerschensteiner-Straße und der Helsinkistraße, die beiden letzteren mit einer Kapazität von etwa 1200. Man habe derzeit eine Auslastung von rund 70 Prozent, doch es stünden noch weitere Wohnungsbauten an, etwa auf der Fläche der Flüchtlingsunterkunft an der Willy-Brandt-Allee. Noch immer gehöre nicht ein fester Platz fix zu einer Wohnung, ein Parkplatzmieter bekomme nun aber "seinen Platz", wo immer gerade einer frei sei. "Wir schauen aber, dass er zu seiner Wohnung einen möglichst kurzen Weg hat." Die Verträge seien hochkomplex, klar sei aber, dass diese Plätze kostendeckend und nicht gewinnbringend verwaltet würden, so Schwab. Eine Rücklage für Instandsetzungen sei aber inbegriffen.

Der Grünen-Stadtrat Herbert Danner verweist darauf, dass die oberen Etagen der nachgerüsteten Parkhäuser leer stünden. Da könnte man Laternenparker unterbringen, findet er. "Aber nicht kostenlos. Und das ist ja für viele leider immer noch der Anspruch." Danner hat sich aber auch gefreut, dass neulich von Bürgermeister Manuel Pretzl (CSU) ein Antrag für ein rollierendes System in Schwabing gekommen sei. Ferner habe einer der Vorschläge für den zweiten Bauabschnitt von Freiham eines enthalten. Dieser habe zwar keinen Preis bekommen, "aber zumindest hat man es im Hinterkopf", sagt Danner.

Fazit: Innovativ gedacht, (zu) früh gekippt. Es gibt aber im Viertel auch echte Autofrei-wohnen-Projekte. Deren Bewohner schwören, dass ein Alltag ganz ohne Auto möglich sei - gerade in der Messestadt.

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