SZ-Serie: Aus den Augen, noch im Sinn, Folge 10:Der letzte seiner Art

Als der Bauer Stefan Engert 1984 hochbetagt starb, verschwand mit ihm die Landwirtschaft aus dem Stadtteil Berg am Laim. Wo früher seine Familie gelebt hatte, haben heute die Sachgebietsleiter der Abteilung Gartenbau im Münchner Osten ihre Büros

Von Pauline Stahl

Ein Taubenhäuschen steht in der Mitte des Hofs, umgeben von drei Gebäuden, rundherum bestimmen Wiesen und Felder das Bild. Nur ein schmaler Weg führt zu dem Bauernhof, auf dem jahrelang Stefan Engert mit seiner Familie gelebt hat. Doch diese Ansicht bietet sich heute nur noch denjenigen, die sich alte Fotos anschauen. Der Schotterweg von damals ist jetzt die Echardinger Straße. Wohnblöcke umgeben den Hof. Darin lebt seit dem Tod Engerts auch keine Bauernfamilie mehr, vielmehr ist dort ein Stützpunkt für die Gartenbau-Bezirksbetriebsstelle Ost untergebracht. Stefan Engert mit seinem Hof an der Ecke der heutigen Gögginger Straße gilt als der letzte Bauer von Berg am Laim.

SZ-Serie: Aus den Augen, noch im Sinn, Folge 10: Ein schmaler Weg führte in den Dreißiger- und Vierzigerjahren zum Bauernhof der Familie Engert in Berg am Laim. Jetzt verläuft dort die Echardinger Straße.

Ein schmaler Weg führte in den Dreißiger- und Vierzigerjahren zum Bauernhof der Familie Engert in Berg am Laim. Jetzt verläuft dort die Echardinger Straße.

(Foto: Privat)

Ob es der größte Bauernhof im Stadtteil war, weiß Rita Strothjohann nicht ganz sicher. Die 87-Jährige drehte 1984 einen Film über den Bauern und seine Familie. Noch im selben Jahr starb Engert im Alter von 85 Jahren. Circa 15 Hektar umfasste sein Hof laut Strothjohann mit allen Äckern und Weiden. Über ihren Film berichtete die SZ im Oktober 2018. "So wie er es erzählt hat, ist der Hof schon zu keltischer Zeit bewirtschaftet worden", erinnert sich Strothjohann. Dann sei er zum Grundeigentum der Kirche geworden, um anschließend in die Hände einer Adelsfamilie zu kommen, die ihn verpachtete. "In den 20er- oder 30er-Jahren ist er dann an die Stadt gegangen", sagt Strothjohann.

Gartenbau-Stützpunkt Berg am Laim

Das Anwesen selbst wird heute von der Stadtverwaltung genutzt. In Scheune und Garage sind Maschinen, Geräte, Fahrzeuge und Anhänger abgestellt.

(Foto: Pauline Stahl/ oh)

Im Februar 1939 pachtete schließlich Engert den Hof - nicht ganz freiwillig, wie seine heute 89-jährige Tochter Marie-Luise Haumer erzählt. "Wir haben früher in Niederbayern, nahe Landshut auf einem eigenen Bauernhof gelebt." Und da wollte ihr Vater, der jüngere von zwei Söhnen, eigentlich auch bleiben. "Als wir schon eine Familie mit vier Kindern waren, hat mein Onkel eine Frau gefunden und doch noch geheiratet", erzählt Haumer. Zwei Familien konnten auf dem Hof nicht leben, "und der andere war eben der Ältere." So ging ihre Familie nach München. "Mein Vater hat sich irgendwann damit abgefunden."

SZ-Serie: Aus den Augen, noch im Sinn, Folge 10: Die SZ berichtete im April 2002.

Die SZ berichtete im April 2002.

Und eigentlich sei er mit dem Hof in Berg am Laim ganz zufrieden gewesen. "Er hat alles gemanagt und war mit Leib und Seele Bauer", sagt seine Tochter. Hilfe auf dem Hof bekam er von wechselnden Arbeitern. "Wir hatten den ganzen Krieg über drei Polen, die bei uns gearbeitet haben", erzählt Haumer. Wie das Anstellungsverhältnis war, ob es sich um Zwangsarbeiter handelte, wisse sie nicht mehr genau. Untergebracht waren die Arbeiter im größten Raum des Hauses, "direkt an der Haustür", erinnert sie sich. Dort standen drei Betten, ein Ofen, ein Tisch und ein paar Stühle, vielleicht noch ein Schrank. "Da haben die geschlafen, gegessen und gelebt."

SZ-Serie: Aus den Augen, noch im Sinn, Folge 10: "Er war mit Leib und Seele Bauer", sagt Engerts Tochter Marie-Luise Haumer, die heute 89 Jahre alt ist. Sie lebte bis zu ihrer Heirat an der Echardinger Straße und kann sich noch gut erinnern, wie sich dort, wo heute Häuser stehen, die Felder erstreckten.

"Er war mit Leib und Seele Bauer", sagt Engerts Tochter Marie-Luise Haumer, die heute 89 Jahre alt ist. Sie lebte bis zu ihrer Heirat an der Echardinger Straße und kann sich noch gut erinnern, wie sich dort, wo heute Häuser stehen, die Felder erstreckten.

(Foto: Michael Artur König)

Haumer und ihre Familie verbrachten viel Zeit in ihrer Wohnküche. Auch ein Wohnzimmer hatten sie, "das nutzten wir aber nur an Weihnachten". Sogar ein Bad gab es in dem alten Bauernhaus. "Wir haben gut gelebt", sagt Haumer, "aber wir waren auch immer viele Leute auf dem Hof." Jedenfalls bis Engert seine Frau und Kinder für einige Zeit zur Verwandtschaft in seinen Geburtsort nahe Würzburg zurückschickte. Zu groß war während des Zweiten Weltkriegs die Angst vor einem Angriff. Der kam schließlich im Oktober 1943, die Bomben vernichteten den Hof fast komplett. "Wir mussten noch einmal zurück nach München, um Winterkleidung zu holen", erinnert sich Haumer. "Genau in den paar Tagen, die wir da waren, kam der Angriff." Während sich die Familie im Kartoffelkeller in Sicherheit bringen konnte, brannte ein Großteil des Bauernhofs aus. Nur das Wohnhaus stand noch.

SZ-Serie: Aus den Augen, noch im Sinn, Folge 10: Stefan Engert bewirtschaftete seinen Hof bis 1984.

Stefan Engert bewirtschaftete seinen Hof bis 1984.

(Foto: Privat)

Engert selbst musste nicht in den Krieg ziehen. Weil er als "Volksernährer" galt, wurde er vom Militärdienst befreit. "Er war hier unabkömmlich", weiß Strothjohann von anderen Bewohnern Berg am Laims. Auch Haumer spricht von Glück, dass ihr Vater nicht als Soldat dienen musste, weil er für die Versorgung der Bevölkerung zuständig war. "Ich glaube schon, dass mein Vater wichtig und mit seinen Äckern bedeutend war." Sehr fleißig und großzügig sei er gewesen. Und obwohl Engert ursprünglich nicht aus Oberbayern kam, war er in seiner Nachbarschaft beliebt. "Er war einer der lustigsten Menschen, die ich in Bayern je kennengelernt habe", sagt Strothjohann. "Er hat immer betont, er sei Franke, aber sehr gut integriert gewesen." Zweimal wöchentlich ging der Bauer in die Echardinger Einkehr zum Schafkopf spielen. "Er hatte so einen trockenen Humor, so einen verschmitzten", erinnert sich die Filmemacherin. "Das sah man auch an seinen Augen."

Den Bauernhof betrieb Engert bis ins hohe Alter. Als er 1984 unerwartet starb, war schnell klar, dass aus der Familie niemand in seine Fußstapfen treten würde. Marie-Luise Haumer lebte noch an der Echardinger Straße, bis sie im Alter von 30 Jahren einen Beamten heiratete. "Ich glaube, meine Mutter und Tante konnten dort nach dem Tod meines Vaters noch ein bis zwei Jahre wohnen." Acker oder Vieh habe es da aber nicht mehr gegeben, "möglich, dass sie noch ein paar Hühner hatten". Schließlich seien auch die Flächen, die einst zum Bauernhof gehörten, immer weniger geworden, weil im Laufe der Jahre sehr viel bebaut worden sei. "Wo du wohnst, bin ich schon mit dem Traktor entlanggefahren", habe Haumer erst kürzlich zu einer Freundin gesagt, die nun in dem Viertel lebt. "Da waren früher die Felder."

Während von den ehemaligen Äckern nichts mehr übrig ist, steht vom Bauernhof noch eine Scheune. Darin sind heute Maschinen, Geräte, Fahrzeuge und Anhänger abgestellt, welche die städtischen Gartenbau-Mitarbeiter nutzen, um die Grünanlagen im Stadtviertel in Schuss zu halten. "Die Scheune steht unter Denkmalschutz", erzählt einer von ihnen, Franz Xaver Maier. Bis zum Jahr 2003, sagt er, wurde gar nichts an dem Gebäude verändert. Dann wurde die Scheune generalsaniert und originalgetreu wieder hergerichtet.

Wo früher die Bauernfamilie zum Mittagessen zusammensaß, die polnischen Arbeiter schliefen und Marie-Luise Haumer mit ihren drei Brüdern spielte, sitzen seit circa 30 Jahren die Sachgebietsleiter der Abteilung Gartenbau im Münchner Osten in ihren Büros. An den einst bedeutenden Bauernhof erinnert nur noch die alte Scheune und - in der Mitte des Hofs - ein schmuckes neues Taubenhäuschen.

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