SZ-Adventskalender:Widerstand gegen sexuelle Übergriffe

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Kinder mit Behinderung sind einem besonders hohen Missbrauchsrisiko ausgesetzt. Der Verein Amyna will Eltern und Erzieher, Lehrer und Nachwuchstrainer dazu befähigen, sie zu beschützen. Auch für Bezugspersonen, die selbst eingeschränkt sind, gibt es Präventionsangebote

Von Hubert Grundner, Au

"Sexualität und Behinderung, das ist ganz generell ein heikles Thema in unserer Gesellschaft", sagt die Sozialpädagogin Yvonne Oeffling. Das erschwere auch die Arbeit der 17 Mitarbeiterinnen von Amyna, dem Verein, der 1989 "zur Abschaffung von sexuellem Missbrauch und sexueller Gewalt" gegründet worden ist. "Nicht über Sexualität zu sprechen", fährt Oeffling fort, "ist natürlich auch keine Lösung."

Und dass darüber gesprochen werden muss, daran kann es keinen Zweifel geben. Die vorliegenden Zahlen klingen jedenfalls alarmierend. So verweist die 37-Jährige auf die im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2012 erstellte Studie "Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland". Darin geben 20 bis 34 Prozent der befragten Frauen mit Behinderungen an, in ihrer Kindheit und Jugend sexuellen Missbrauch erlebt zu haben. Werden sexuelle Übergriffe durch andere Kinder und Jugendliche miteinbezogen, so hat je nach Untersuchungsgruppe sogar jede zweite bis vierte Frau mit Behinderung sexuelle Gewalt in ihrer Kindheit und Jugend erlebt. Besonders häufig berichten in dieser Studie gehörlose Frauen davon: 52 Prozent der Befragten haben sexuelle Übergriffe erlebt, "auffällig häufig" in Einrichtungen, Internaten und Schulen.

Ähnlich liest sich das Ergebnis einer Fragebogenaktion, die 2004 unter den Mitgliedern des norwegischen Gehörlosen-Registers durchgeführt wurde. Demnach waren gehörlose Frauen zwischen 18 und 65 Jahren, die vor ihrem neunten Lebensjahr gehörlos wurden, mehr als doppelt so häufig von sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend betroffen wie hörende Frauen. Gehörlose Männer berichteten dreimal so häufig von sexuellem Missbrauch in Kindheit und Jugend wie hörende Männer.

Sozialpädagogin Yvonne Oeffling (hinten) von Amyna will ein Bewusstsein dafür schaffen, dass sexuelle Gewalt ein gesellschaftliches Problem ist. (Foto: Catherina Hess)

Bei Amyna - neugriechisch für "Widerstand" - weiß man um das erhöhte Missbrauchsrisiko, dem Kinder mit Behinderung ausgesetzt sind. "Das ist eine wahnsinnig hohe Zahl", kommentiert Oeffling die vorliegenden Forschungsdaten. Und damit wollen sich die Mitarbeiterinnen bei Amyna nicht abfinden. Unter dem Leitsatz "Kein Kind kann sich alleine schützen!" setzt der Verein deshalb seit 31 Jahren konsequent auf ein vielfältiges Präventionsangebot. Zielgruppe sind alle Erwachsenen, die für Kinder und Jugendliche Verantwortung tragen. Der Personenkreis, der potenziell angesprochen wird, ist entsprechend groß und reicht von Eltern, Erzieherinnen und Erziehern, Sozialpädagogen und Lehrern bis zu ehrenamtlichen Helfern in der Nachwuchsarbeit aller möglichen Vereine.

Entsprechend rege geht es im Haus am Mariahilfplatz 9 oft zu, wo Amyna beheimatet ist. Bei manchen Veranstaltungen kommen bis zu 50 Teilnehmerinnen und Teilnehmer im Vortragssaal zusammen. Aktuell aber herrscht coranabedingte Leere. Abends allerdings werden in dem Raum Online-Seminare abgehalten - was dem Verein zusammen mit einigen verbliebenen Präsenz-Veranstaltungen immerhin eine Art Grundbetrieb erlaubt. Zu "normalen" Zeiten mache Amyna seine Präventionsangebote zu etwa einem Drittel im Haus und zu zwei Dritteln auswärts auf Einladung der Träger in deren Einrichtungen, zum Beispiel in Kindertagesstätten oder Freizeiteinrichtungen, sagt Oeffling.

Typisch ist etwa ein Team-Tag, bei dem Sozialpädagogen unter Anleitung der Amyna-Mitarbeiterinnen ein Schutzkonzept für die ihnen anvertrauten Kinder entwickeln. Dabei geht es weniger um konkrete Handlungsanweisungen, erklärt Oeffling. Stattdessen bekämen die Teilnehmer von ihr zu hören: "Ihr seid nicht Miss Marple oder Sherlock Holmes - aber ihr sollt aufmerksam sein." Es gehe darum, ein Bewusstsein dafür zu schaffen, dass sexuelle Gewalt ein gesellschaftliches Problem ist. Die soziale Herkunft von Täter und Opfer spiele eher keine Rolle. "Das könnte auch meinem Kind passieren, auch in der Klasse meines Sohnes könnte schon rein statistisch gesehen ein Opfer sitzen", lautet eine Erkenntnis, von der Oeffling hofft, dass sie bei Erwachsenen aufgrund der Präventionsangebote von Amyna heranreift.

Für den Verein bedeutet das, dass er sich auf zwei Aspekte fokussiert: "Wir müssen uns potenziell betroffene Gruppen genauer anschauen und sie schützen. Und wir müssen unsere Angebote so gestalten, dass sie auch wahrgenommen werden können." Deshalb unterhält Amyna schon seit längerem eigens eine Stelle für inklusive Präventionsarbeit. Um sie zu stärken, unterstützt sie jetzt der SZ-Adventskalender bei der Anschaffung einer mobilen induktiven Höranlage. Denn natürlich gebe es auch hörbehinderte Fachkräfte, denen Amyna seine Präventionsangebote zugänglich machen will - nicht zuletzt deshalb, weil diese wiederum mit ebenfalls hörbehinderten Kindern und Jugendlichen arbeiten. Die Erwachsenen teilen also die spezifischen Probleme ihrer Klientel oder wie Oeffling sagt: "Die können besser in ihre Community hineinwirken."

Wie wichtig gerade solche Vermittler sind, zeigt sich daran, dass viele Menschen mit Hörbehinderung oft über nur wenige soziale Kontakte verfügen. Die Folge: Vergehen bleiben oft unentdeckt, so wie auch die Täter. "Die Aufdeckung in diesem Bereich ist wahnsinnig schwierig", weiß Oeffling zu berichten. Ein weiterer Grund dafür ist, dass die betroffenen Mädchen und Buben häufig über wenig Wissen zu ihrem Körper und zu Sexualität im Allgemeinen verfügen. Teilweise erkennen sie deshalb sexuellen Missbrauch nicht, weil sie auch nicht wissen, dass das Verhalten des Täters oder der Täterin verboten ist. Und selbst wenn ihnen das bewusst wäre: Gehörlosen - und ihren Bezugspersonen - fehlen häufig die Gebärden, die nötig sind, um von sexuellen Übergriffen überhaupt berichten zu können. Zumindest unter solcher "Sprachlosigkeit" sollten diese Kinder nicht leiden müssen.

© SZ vom 09.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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