SZ-Adventskalender:Traurige Kindheit

Lena lebt in ständiger Angst, auch noch ihre Mutter zu verlieren

Von Inga Rahmsdorf

"Wir waren eine ganz normale Familie", sagt Nicole Müller. Doch seit ihr Mann schwer erkrankte, ist nichts mehr normal. Vor einem Jahr starb er an Darmkrebs. Die achtjährige Tochter leidet seitdem unter so starken Ängsten, dass sie sich nicht mehr traut, sich alleine in der Wohnung zu bewegen. Sogar auf die Toilette muss Nicole Müller ihre Tochter begleiten. "Obwohl ich immer versucht habe, sie zu schützen, hat das Kind alles mitbekommen." Lena musste miterleben, wie es dem Vater immer schlechter ging, wie er zunächst immer schweigsamer und nervöser wurde. Dann nicht mehr essen wollte und später nicht mehr schlucken konnte, wie die Schmerzen ihn quälten. Immer wieder musste er ins Krankenhaus, doch die meiste Zeit während der Krankheit verbrachte er zu Hause.

Die Mutter möchte nicht, dass die Klassenkameraden von Lena wissen, wie arm ihre Mutter und wie schwierig ihre Situation ist. "Früher war sie ein fröhliches und lebendiges Kind", sagt Müller. Im Unterricht leidet Lena unter Konzentrationsproblemen. Und sie lebt in ständiger Angst, dass sie auch noch ihre Mutter verlieren könnte.

An der Wand im Wohnzimmer hängt ein Hochzeitsbild von Müller und ihrem Mann, aufgenommen vor 18 Jahren. Beide lachen darauf, sie sehen gelöst und glücklich aus. Müller holt eine Kiste aus dem Regal. Mit zitternden Händen zieht sie ein anderes Foto ihres Mannes hervor. Es ist in den letzten Wochen vor seinem Tod aufgenommen. Er liegt auf demselben Sofa, auf dem seine Frau jetzt sitzt. Das Gesicht ist gezeichnet von großen Wunden, die Haare und Nägel sind ihm ausgefallen. "Diese lange schreckliche Zeit, all die Erinnerungen sind immer noch hier in der Wohnung", sagt Müller. Sie würde gerne ausziehen, auch um ihrer Tochter einen Neuanfang zu ermöglichen, damit Lena sich zu Hause wieder frei bewegen kann. Hinzu kommt die Angst, ausziehen zu müssen, denn die Miete kann sie sich eigentlich gar nicht mehr leisten. Als ihr Mann erkrankte, hat Müller aufgehört zu arbeiten, um sich um ihn zu kümmern.

"Ich habe Angst, ich weiß nicht, wie es weitergeht", sagt Müller. Ihre Arme sind oft taub, sie spürt einen ständigen Druck in der Brust. Nachts quält sie die Schlaflosigkeit. Nach dem Tod stand Müller alleine da, musste alles alleine organisieren. Unterstützt wurde sie nur von ihrer Schwester, doch die ist selbst an Krebs erkrankt. "Ich habe bis heute keine Zeit gehabt zu trauern", sagt Müller. Zu sehr lastet Tag und Nacht die Frage auf ihr, wie sie das Leben für sich und ihre Tochter finanzieren soll. Jeder Brief, der im Briefkasten liegt, löst bei ihr eine Panik aus. Sie erhält eine Witwen- und eine Halbweisenrente, doch wenn sie davon die Miete zahlt, bleibt kaum noch etwas zum Leben.

Wenn Müller zur Münchner Tafel geht, um Lebensmittelspenden abzuholen, schämt sie sich und versucht ihr Gesicht so weit es geht zu verbergen. Nicht einmal einen Grabstein für das Grab ihres Mannes konnte sie kaufen. "Wovon soll ich den bezahlen?", fragt sie. Vor Kurzem kam ihre Tochter weinend aus der Schule, weil die anderen Kinder sie als arm bezeichnet hatten. Müller möchte Lena gerne weiterhin den Musikschulunterricht ermöglichen. Um die Gebühr zahlen zu können, isst sie selbst nur noch einmal am Tag. "Ihr Papa ist schon gestorben, nun soll ihr nicht auch noch alles gestrichen werden. Ich möchte, dass sie eine fröhliche Kindheit hat und sich nicht alles immer nur um Trauer dreht." Nicole Müller würde ihrer Tochter gerne Winterkleidung und ein Weihnachtsgeschenk kaufen.

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