SZ-Adventskalender:"Eine Behinderung ist eigentlich mehr so im Kopf"

SZ-Adventskalender: Sakina Mammadova sitzt seit ihrer Kindheit im Rollstuhl. Sie leidet an Gliedergürteldystrophie. Dank ihrer Betreuerin Milana Gurbanova kommt sie auch mal raus aus der Wohnung.

Sakina Mammadova sitzt seit ihrer Kindheit im Rollstuhl. Sie leidet an Gliedergürteldystrophie. Dank ihrer Betreuerin Milana Gurbanova kommt sie auch mal raus aus der Wohnung.

(Foto: Stephan Rumpf)

Einen Alltag ohne Einschränkungen kennt die 28-jährige Sakina Mammadova nicht. Wie sie es schafft, sich trotzdem ein bisschen Selbständigkeit zu erhalten.

Von Sabrina Ahm

Zwei junge Frauen. Die eine sitzt in einem elektrischen Rollstuhl, die andere hat uneingeschränkte Bewegungsfreiheit. Die eine arbeitet von zu Hause aus für eine türkische Firma, die andere studiert BWL an der Ludwig-Maximilians-Universität München. Für die eine ist ein selbständiges Leben mit vielen Hürden verbunden, für die andere ist Selbständigkeit eine ganz normale Vorstellung. Sakina Mammadova, 28, und Milana Gurbanova, 21, sind eine zu betreuende Person und eine Betreuerin, sie sind Freunde, aber eigentlich sind sie schon Familie.

Seit ihrer Kindheit sitzt Sakina im Rollstuhl, anfangs nur, wenn es notwendig wurde, dann permanent. Heute kann sie nur noch einen Teil ihres Oberkörpers frei bewegen, nur einen Arm auf einmal heben. Sakina leidet an Muskeldystrophie, genauer, an Gliedergürteldystrophie. Ihre Muskeln bauen sich kontinuierlich ab. Die junge Frau gilt somit als Person mit Behinderung. "Ich sehe mich nicht als jemand, der eine Behinderung hat, weil eine Behinderung ist eigentlich mehr so im Kopf, also jeder kann eine Behinderung haben, der sich ein Hindernis setzt", sagt Sakina.

Für sie scheint nichts unmöglich zu sein, denn sie bleibt optimistisch. Trotz der täglichen Schwierigkeiten, trotz der bürokratischen Hindernisse. So sei sie nun mal aufgewachsen, problemlösend, nicht Probleme schaffend. Sie habe Glück, dass ihre Krankheit langsam voranschreitet, sagt Sakina, so habe sie alle Facetten langsam kennenlernen können. "Ich konnte erkennen: Okay, jetzt kann ich das zwar nicht, aber wie kann ich das anders hinbekommen?", sagt Sakina.

Anders als bei ihr schreitet die Krankheit bei ihrem Bruder schneller voran. Die aus Aserbaidschan eingewanderte Familie hält zusammen, anders wäre diese Situation gar nicht zu bewältigen. Eine große Hilfe stellt außerdem der Verein zur Betreuung und Integration behinderter Kinder und Jugendlicher, kurz BIB, dar. Der Verein bietet Familienentlastungen für Familien mit behinderten Kindern und Jugendlichen. Das beinhaltet auch Freizeitprogramme und Ferien, aber um dieses Angebot aufrechtzuerhalten, sind Spenden notwendig.

Mit einer Betreuerin produzierte sie schon einen Stop-Motion-Film

Milana ist genau wie Sakina Mitglied von BIB, jedoch als Helferin. In ihrer Freizeit verbringt sie Zeit mit Sakina, gemeinsam denken sie sich Aktivitäten aus, die sie gerne machen würden. So kommt Sakina öfter aus dem Haus, hat mehr Abwechslung und muss nicht durchgängig von ihrer Familie betreut werden. Der Bezirk Oberbayern bezuschusst im Zuge der Eingliederungshilfe 40 Stunden des Helferprogramms monatlich, allerdings deckt das nur die Aufwandsentschädigung für Helfer wie Milana, alle anderen Ausgaben des Vereins werden von Spenden getragen.

Vor Milana hatte Sakina bereits andere Betreuer. Jeder sei ganz anders und mit jedem habe sie eine andere Beziehung gehabt. "Mit einer, die hat im kreativen Bereich gearbeitet, haben wir die verrücktesten Dinge gemacht, darauf wäre ich nie gekommen", sagt Sakina. Sie lächelt. "Gemeinsam mit ihr, meinem Bruder und seinem Betreuer haben wir einen Stop-Motion-Film produziert." Wenn sie den Film gemeinsam auf YouTube anschauten, kommen schöne Erinnerungen hoch. Genauso, wie wenn sie an das Bogenschießen oder das Geo-Caching zurückdenkt, erklärt die junge Frau.

Im Gespräch mit Sakina vergisst man ihre Behinderung. Nur wenn man sie ansieht, ist da der Rollstuhl und erinnert an ihr Schicksal. Ihre schwarzen Haare sind zu einem Zopf zusammengebunden, auf der Nase trägt sie eine runde Brille. Sie spricht aufgeregt und leidenschaftlich, dennoch hört man ihr ihre Zufriedenheit an, ihre Worte wählt sie sicher und gelassen. Normalerweise trägt Sakina ein Kopftuch, immer dann, wenn sie aus dem Haus geht oder ein Mann zu Gast kommt. Eine Entscheidung, die die junge Erwachsene erst vor ein paar Jahren getroffen hat.

Anders als Sakina hat sich Milana zum jetzigen Zeitpunkt gegen das Kopftuch entschieden, auch ihre Eltern kommen ursprünglich aus Aserbaidschan. Schon sehr früh wachsen die beiden jungen Frauen miteinander auf, die Familien sind befreundet, erst später geht Milana zu BIB, um auch offiziell Helferin zu sein. "Es ist nicht so ein normales Betreuungsverhältnis, sondern es ist halt so, ich weiß nicht, Family eher. Es ist eher selbstverständlich, dass man da halt hilft", sagt Milana. Sie sei auch einfach so erzogen worden, zu helfen, wo sie kann.

Allerdings betonen beide, dass alle Helfer auch jederzeit "Nein" sagen dürfen, wenn sie etwas nicht machen wollen. Denn im Verein stehen die Helfer genauso im Mittelpunkt wie die Personen mit Behinderung. "Viele Leute denken, wenn man jetzt zu BIB geht, dann ist es eher geben und nicht nehmen, aber es ist immer ein Geben und Nehmen, wenn es um menschliche Interaktion geht, immer", sagt Milana. Für beide ist Integration ein wichtiges Thema.

Zu oft kommt es vor, dass Sakina blöd angesprochen würde, sie angestarrt würde oder ihr mit Mitleid begegnet würde. "Du brauchst hier kein Mitleid haben, sondern eher Respekt, wenn du wüsstest, was sie alles drauf hat", sagt Milana. Sakina reagiert gelassen, sie sei das schon gewohnt. Milana hingegen findet es wichtig, die Menschen darauf hinzuweisen, denn die Thematik ginge in unserer Gesellschaft unter. "Deswegen ist es ja auch schön, dass man mit BIB zum Beispiel rauskommt. Weil es ist ja schön, dass die dich sehen und dass ihr halt präsent seid einfach", sagt Milana und blickt zu Sakina.

So können Sie spenden

Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung e.V. Stadtsparkasse München, IBAN DE 86 7015 0000 0000 6007 00, BIC SSKMDEMMXXX.

Spenden an den SZ-Adventskalender sind steuerlich absetzbar. Bei Überweisungen von mehr als 300 Euro übersenden wir eine Spendenquittung. Weitere Informationen unter www.sz-adventskalender.de.

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