SZ-Adventskalender:Gemeinsam auch ohne Worte

Der "Seniorenclub" im Münchner Gehörlosenzentrum ist mehr als ein Treffpunkt für ältere Menschen. Die Selbsthilfegruppe, die auf Spenden angewiesen ist, organisiert Vorträge und Reisen für ihre Mitglieder

Von Ilona Gerdom

In einem großen, holzgetäfelten Raum sitzen etwa 30 ältere Menschen. Fast alle unterhalten sich angeregt. Trotzdem ist kein Wort zu hören. Das liegt daran, dass die Senioren gehörlos sind. Ihre Gespräche führen sie in Gebärdensprache. Außerhalb dieses Raumes im Haus des Gehörlosenverbandes München und Umland (GMU) bewegen sie sich in einer Welt der Hörenden. Hier aber finden sie zueinander. Gerade für ältere Menschen ist das wichtig.

Wenn Stephan Straßer, der stellvertretende Leiter des GMU, spricht, dann tut er das mit seinen Händen. Eine Dolmetscherin übersetzt, was er sagt. Straßer erklärt: "Wenn man als Gehörloser auf die Welt kommt, muss man erst einmal seine Identität finden." Gehörlose sprächen nicht nur eine eigene Sprache, sie hätten auch ihre ganz eigene Kultur. Wenn sich zwei Hörende begegnen, begrüßen sie sich, danach erst beginnt die Unterhaltung. Bei ihnen sei das ganz anders, sagt Straßer: "Wenn wir uns treffen, plaudern wir einfach drauflos." Der Grund ist, dass das Bedürfnis nach Kommunikation bei Gehörlosen enorm hoch ist. Während Hörende quasi immer ins Gespräch kommen können, ist das für gehörlose Menschen nur selten möglich. Kaum jemand ist der Gebärdensprache mächtig. Deshalb sehen sie sich laut Straßer auch nicht als Menschen mit Behinderung, sondern bezeichnen sich als Sprachminderheit.

Immer Dienstags veranstaltet der Gehörlosenverband einen Senioren-Nachmittag für Gehörlose. Lohengrinstraße 11

Rege Unterhaltung: Die Mitglieder des Seniorenclubs reisen zum Teil von weither an, einige kommen sogar aus Nürnberg und Rosenheim gefahren, um an den Treffen im Gehörlosenzentrum in Oberföhring teilzunehmen.

(Foto: Florian Peljak)

Gerade für ältere Menschen ist die Sprachbarriere ein Problem. Im Gegensatz zu Jüngeren sind sie nicht in der Schule oder im Beruf von anderen Menschen umgeben. Manche haben keine Familie. So sind gehörlose Senioren oft einsam. Das ist einer der Gründe, warum es die Selbsthilfegruppe "Seniorenclub" gibt.

Eine, die seit etwa zwei Jahren regelmäßig zu den Treffen kommt, ist Hedwig Kieswimmer. Die 64-Jährige ist eine selbstbewusste Frau. Selbstmitleid kennt sie nicht. Sie sagt, sie störe es nicht, wenn sie nicht fernsehen kann, weil das Programm nicht untertitelt ist. Sie bastle ohnehin lieber. Fingerspitzengefühl hat Kieswimmer auch in ihrem Beruf gebraucht. Früher war sie Schneiderin, damals sei sie wenig in der Gehörlosen-Gemeinde aktiv gewesen. "Ich war ja früher jung, da haben mich die Senioren noch nicht interessiert", sagt sie. Mit der Rente ist das anders geworden: "Im Alter sucht man automatisch Kontakt."

Immer Dienstags veranstaltet der Gehörlosenverband einen Senioren-Nachmittag für Gehörlose. Lohengrinstraße 11

Taube, sagt Gebärdensprachdozent Stephan Straßer (Foto), sehen sich nicht als Menschen mit Behinderung, sondern bezeichnen sich als Sprachminderheit.

(Foto: Florian Peljak)

In ganz Bayern leben laut Straßer etwa 12 000 gehörlose Menschen. In München und Umland seien es an die 2700. Die Menschen kämen teilweise von weither, um sich im Zentrum zu treffen. Regelmäßig nehmen sie den Weg von Erding, Rosenheim oder Nürnberg nach München auf sich. Straßer: "Man sagt, von Jung bis Alt sind die Gehörlosen Kilometerfresser." Zwar ist die Kommunikation zwischen Gehörlosen durch Smartphones und Internet leichter geworden. Diese Mittel sind allerdings nicht jedem zugänglich. Schon ältere, hörende Menschen tun sich schwer damit, den Umgang mit neuen Geräten zu erlernen. Für Gehörlose ist es noch schwieriger, weil sie weniger Möglichkeiten haben, sich Wissen darüber anzueignen. Die Tatsache, dass wenige Menschen Gebärdensprache sprechen, spielt eine große Rolle. Hinzu kommt, dass Deutsch für Gehörlose wie eine Fremdsprache ist, die sie erst in der Schule lernen. Dadurch haben sie häufig Schwierigkeiten, offizielle Schreiben oder anspruchsvolle Texte zu verstehen. Das führt zu einem Informationsdefizit. Deshalb organisiert der Seniorenclub regelmäßig Vorträge. Dabei geht es dann zum Beispiel um gesunde Ernährung, Sexualität im Alter oder eben den Umgang mit Computern. "Wir wollen einfach, dass unsere gehörlosen Senioren den gleichen Informationsstand haben", erklärt Straßer.

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Die Selbsthilfegruppe gibt es seit 1972. Seitdem steigt die Zahl der Mitglieder stetig an. 115 sind es derzeit. Dazu kommen noch Besucher und Gäste. Wenn alle Mitglieder da sind, ist der große Saal voll mit Stühlen und Tischen. An diesem Tag sind die Stühle an den Seiten aufgestapelt. Das liegt vor allem daran, dass mittlerweile viele davon kaputt sind. Schrauben sind locker, und es ist gefährlich, sich daraufzusetzen. Auch die Tische haben Schrammen. Teilweise splittert das Holz ab. Damit auch zukünftig alle Senioren Platz finden, will der Gehörlosenverband neue Tische und Stühle anschaffen. Dafür ist die Selbsthilfegruppe aber dringend auf Spenden angewiesen.

Neben Veranstaltungen im Gehörlosenzentrum organisiert der Seniorenclub Reisen und Ausflüge. In den vergangenen Jahren ging es etwa nach Rom, Pisa, Paris oder London. Das Reisen ist für Gehörlose mit viel Aufwand verbunden. Dolmetscher müssen dabei sein und Begleiter. Laut Straßer sind die Kosten zwischen 20 und 25 Prozent höher als für Hörende. Kieswimmer sagt, wenn sie verreise, dann mit dem Seniorenclub. Bei der Silvesterreise ist sie auch dabei. Diesmal geht es zum Gardasee. Sie strahlt. So kann sie Silvester mit Gleichgesinnten verbringen. Mit Menschen, die sie verstehen. Genau wie im Seniorenclub. Ein Ort, der nicht allein den Hörenden gehört. Oder wie Hedwig Kieswimmer sagt: "Das Gehörlosenzentrum ist unsere Welt."

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