Süddeutsche Zeitung

SZ-Adventskalender:Geborgen bis zum Schluss

Der Hospizdienst DaSein betreut seit 25 Jahren schwerstkranke und sterbende Menschen. Der Verein berät auch Mitarbeiter von Obdachlosen-Unterkünften, wie sie ihren Bewohnern in der letzten Lebensphase zur Seite stehen können

Von Andrea Schlaier

Hermachen wollte Heinrich R. immer etwas. Sobald sich die Sonne am Firmament zeigte, setzte sich der Zimmermann aus dem Innviertel in der Badehose auf seinen kleinen Balkon und ließ sich bräunen. Seit Frühjahr 2012 ging das so. Fünf Jahre später, da war er 59, schaffte es der gebürtige Oberösterreicher nicht einmal mehr, sich allein im Bett so zu drehen, dass er einen Blick auf den Balkon erhaschen konnte. Der Krebs war bereits im Endstadium, die Niere versagte ihren Dienst, der ganze Körper ein einziger Schmerz. Trotzdem wollte Heinrich R. (Name v. d. Red. geändert) nicht weg von hier, partout nicht ins Krankenhaus für die letzten Tage, um sich dort helfen zu lassen. Bleiben wollte er. Hier sei schließlich sein Zuhause. Auch wenn hier keiner von der Familie am Bett stand. Der Kontakt war seit Jahren abgebrochen. Aber Isidora Veits und ihre Kollegen schauten regelmäßig rein, die Tür stand immer offen. Sie kamen, spendeten Trost, auch mal ein Bierchen und streichelten Heinrich R. Zuletzt ließ er auch Nähe zu. Und starb am 24. März 2017, wo er es sich gewünscht hatte: im Haus für wohnungslose Männer der Wohnhilfe e.V. an der Verdistraße 45.

Es war der erste so gelagerte Fall für Heike Beck und Werner Rattensberger vom Hospizdienst DaSein, einem Verein, der seit 25 Jahren schwerstkranke und sterbende Menschen in ihrer letzten Lebensphase zu Hause, also ambulant, betreut. In diesem Jahr haben die Helfer in der reichen Stadt ihren Wirkungskreis erweitert auf Menschen, von denen es immer mehr in München gibt: Männer und Frauen in prekären Verhältnissen, Wohnungslose. Offiziell gibt es derzeit 10 000 Münchner ohne eigene Bleibe. Sie sind in der Regel ausgeschlossen von gesellschaftlicher Teilhabe und damit auch von medizinisch-pflegerischer Versorgung, wenn sie schwer oder lebensbedrohlich erkranken. Dabei sind sie so bedürftig und ängstlich, wenn's ans Sterben geht wie jeder andere auch. "Selbstverständlich und frei von Hürden" soll diesen Menschen am Rand der Gesellschaft palliative Versorgung zuteil werden.

"Kontakt zu jemandem zu bekommen, der tatsächlich auf der Straße lebt, ist sehr schwer", sagt Heike Beck, die im Bereich der Palliativ-Versorgung des Hauses berät und das zunächst auf ein Jahr angelegte Projekt erläutert. "Hier handelt es sich oft um Menschen mit einem hohen Bedürfnis nach Autonomie." Sich helfen zu lassen, gehöre nicht zu deren Grundausstattung. Deshalb hat der Hospizdienst begonnen, Kontakte zu knüpfen zu Einrichtungen der Stadt, in denen Obdachlose unterkommen. Die Wohnungshilfe an der Verdistraße 45 ist eine von ihnen. Hier leben 60 Männer in 48 Einzel- und sechs Doppelzimmern, darunter psychisch Kranke und überdurchschnittlich viele Alkoholabhängige. "Wir sind ein nasses Haus", sagt Einrichtungsleiter Michael Liebmann. "Alkohol ist erlaubt auf den Zimmern." Konzipiert ist das Haus für Wohnungslose, die Schwierigkeiten hätten, in einem Altenheim zu leben. "60 bis 70 Prozent bleiben hier bis zu ihrem Lebensende."

Heinrich R. gehörte zu ihnen. "Wir hatten ordentlich Bauchschmerzen, als er uns gesagt hat, er wolle hier, in seinem Zimmer sterben", gesteht Liebmann. "Schließlich haben wir keinen Arzt, der dauernd da ist, nur eine Nachtbereitschaft auf Mini-Job-Basis, die heillos überfordert wäre." Als Heinrich R. mit der Diagnose unheilbarer Krebs aber anhaltend forderte, "daheim" sterben zu wollen, schlug Pflegefachkraft Isidora Veits vor, deshalb den Hausarzt zu konsultieren. Der stellte schließlich den Kontakt mit den Leuten von DaSein her.

"Von Seiten der Einrichtungen gibt es viel Unsicherheit, was den Umgang mit sterbenden Menschen angeht." Die Erfahrung hat Werner Rattensberger gemacht. Der Palliativ-Fachmann und Krankenpfleger geht deshalb in die Häuser, klärt Mitarbeiter auf, leitet sie an. "An der Verdistraße gab es die Angst, fachlich überfordert zu sein, was soll man machen bei akuten Schmerzen?" Für sie, sagt Isidora Veits, sei es schlimm gewesen, den Patienten etwa zum Duschen herauszuholen, trotz der Schmerzen. Rattensberger sagt, "die Mitarbeiter hatten auch Sorge, dass er zu wenig trinkt und genug zu essen hat." Aber darum gehe es gar nicht. "Das Ziel ist nicht, jemanden gesund zu pflegen, sondern nur dafür zu sorgen, dass er sich wohl fühlt."

Veits sitzt Rattensberger gegenüber, als er im Gemeinschaftsraum an der Verdistraße von den ersten gemeinsamen Schritten spricht. Sie schnauft laut auf, wie jemand, der mit großem Kraftaufwand einen Gipfel erklommen hat. "Es war toll, als wir gemerkt haben, dass wir im Prinzip nichts falsch machen können, und wenn der Bewohner sagt, ich will das, er es auch kriegt. Ob das nun ein Schmerzmittel oder ein Bierchen ist." Mit relativ wenig Aufwand, sagt Rattensberger, "kann man viel bewirken".

Sehr still sitzen zwei Männer in der Runde. Der eine trägt sein gelocktes, schulterlanges Haar offen, der weiße Bart reicht ihm bis auf die Brust; über sein hellblaues Hemd hat er einen blauen Strickpulli gezogen. Hans-Dieter Soßna, 65 Jahre, lebt nach vielen Jahren auf der Straße seit 2004 im Haus. Ein Künstler, der sein Zimmer mit Engel- und Heiligen-Gemälden ausgestaltet hat und täglich an der Staffelei steht. "Hier habe ich mir mein eigenes Reich geschaffen und hier will ich bleiben, bis zum Schluss." Soßna schaut unsicher nach links. Dort sitzt aufrecht mit schwarz-weiß gemusterten Hosenträgern über dem lila T-Shirt Ingo Orlop, 72 Jahre, Fahrzeuglackierer mit abgeschlossener Gesellenprüfung, seit 2005 sein Nachbar im Vielparteien-Haus. "Ich bin die letzten Tage lieber auch hier, wo man die Leute kennt, von denen man betreut wird." Viel mehr sagen, wollen sie zum Thema aber nicht. Einrichtungsleiter Liebmann wird die Bewohner noch eigens über das Angebot der DaSein-Leute informieren. "Ich glaube aber, es werden nur wenige kommen. Das Thema wird gerne verdrängt."

Viele hätten auch gar nicht mitbekommen, dass Heinrich G. drei Wochen im Sterben lag. Nachts war einer der 60 Ehrenamtlichen, die das 18-köpfige hauptamtliche Dasein-Team unterstützen, bei ihm. Am Schluss, erinnert sich Isidora Veits, "hat für unser Team nur noch gegolten, was Herr R. wollte. Ich glaube, er hat es sehr genossen." Rettensberger nickt: "Wir müssen es aushalten, wie ein Mensch sein Lebensende gestalten will."

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Quelle:
SZ vom 30.12.2017
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