SZ-Adventskalender:Die Ersparnisse aufgebraucht, der Schmuck verkauft

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Elisabeth Winter fehlt nicht nur Geld. Am Meisten fehlt ihr Helmut, ihr Mann - und das Kuscheln mit ihm. (Foto: Jan A. Staiger)

Elisabeth Winter hatte ein bewegtes Leben. Doch nun gehört sie zu den Menschen, die im Alter nur gerade so über die Runden kommen.

Von Anna Hoben

Das Helfen, das ist in ihr drin. Früher hat sie ehrenamtlich bei "Essen auf Rädern" mitgearbeitet, drei Stunden war sie dafür jeden Tag unterwegs, mal mehr, mal weniger, "je nachdem, wie die alten Leute beieinander waren". Das war ja damals ganz anders als heute, sagt sie: "Man hat das Essen nicht einfach nur hingeworfen, man hat auch geholfen." Sich Zeit genommen. Sie hatte einen Ausweis, mit dem sie überall parken konnte. "Ah, die Räuberlilly ist wieder unterwegs", sagte die Polizei. Auch heute hilft Elisabeth Winter noch gern. In der Unterführung am S-Bahnhof sitzt ein Mann und bittet um Geld? Da geht sie schnurstracks zum nächsten Bäcker und kauft ihm eine Butterbreze.

Dabei ist sie, Elisabeth Winter, 86, nun selbst eine, die Hilfe braucht. Aber vielleicht das Schöne zuerst: Ihr Leben ist reich an Abwechslung gewesen, langweilig war es nie. Das hat viel mit ihrem Mann zu tun, der 2013 gestorben ist, mit 93 Jahren. "Sie haben das bestimmt in Ihrem Handy drin, schauen Sie mal nach, wer er war", sagt Elisabeth Winter, und ihre Augen blitzen vorfreudig. Aha, Helmut Winter, der Knödelschütz von Pasing. Gern erzählt sie dann die Geschichte, die sie schon so oft erzählt hat in ihrem Leben und die längst ins Münchner Geschichtengut übergegangen ist.

Wie damals, im Jahr 1967, jeden Tag die Starfighter der Bundesluftwaffe bei ihrem Landeanflug auf den Fliegerhorst Fürstenfeldbruck über ihr Wohngebiet dröhnten. Und wie ihr Mann eine kuriose Zeitungsannonce aufgab: "Flugabwehrgeschütz mit ausreichender Munition zur Wiederherstellung der Ruhe und Ordnung im westlichen Luftraum Münchens gesucht."

Der Text landete in einem Nachrichtenmagazin in der Rubrik Hohlspiegel, und Winter, ein Werbegrafiker, machte sich daran, das Geschütz selbst zu entwerfen und zu bauen. Als er überlegte, womit er schießen könnte, stand seine Frau gerade in der Küche. "Nimm doch Knödel", sagte sie, und das tat er. Keine bröseligen Semmelknödel, sondern feste Kartoffelknödel. "60 Meter sind die schon geflogen", sagt seine Witwe, sie lacht. Auf die symbolische Aktion des gewitzten Wutbürgers wurde damals die Weltpresse aufmerksam, der Pasinger Knödelkrieg schaffte es in die New York Times. Am Ende war Winter erfolgreich. Die Einflugschneise wurde geändert.

Sie vermisst ihn, ihren Helmut, mit dem sie 60 Jahre verheiratet war, er, der Münchner, und sie, das Mädchen vom Land. Sie vermisst ihn jeden Tag. "Wenn ich jetzt so durch die Gegend wandere und schaue - ich hab' noch keinen gefunden, der auch nur annähernd so wäre." Am meisten fehlt ihr das Kuscheln, früher lief sie auf ihn zu, und dann sprang sie. "Er hat mich immer aufgefangen."

Im Wohnzimmer ist er überall präsent. Fotos an den Wänden, eine Urkunde eines US-amerikanischen Luftschiffvereins, der ihn zum Ehrenpräsidenten ernannte, ein golden angemaltes Miniaturexemplar der Knödelschleuder. Ein Tausendsassa sei er gewesen, sagt Elisabeth Winter, ein kluger Mann, der in keine Schublade gepasst habe. Leider ging damit nicht einher, dass er sich ausreichend um die Altersvorsorge kümmerte. "So alt werde ich eh nicht, hat er immer gesagt." Er war ja sogar mal aus der Krankenkasse ausgetreten. "Bis ich ihn wieder reingebracht hab. Er konnte schon ein sturer Kopf sein."

Helmut Winter war selbständig, sie arbeitete bei ihm mit. Das Haus, das sie besessen hatten, haben sie irgendwann verkauft. Das Geld ging später für die Miete drauf. Und so reichen Rente und Witwenrente nirgendwo hin, obwohl ihre Miete günstig ist. Sie ist auf Grundsicherung angewiesen. "Wir sind ja selber schuld", sagt sie. Bevor er starb, hat sie ihn ein halbes Jahr lang gepflegt. Er hatte einen leichten Schlaganfall gehabt. "Gell, jetzt gibst du mich in ein Heim", sagte er. "Du bist doch daheim", antwortete sie, und er sagte: "Danke."

"Ich würd' so gern mal wieder Rindsbackerl essen"

Irgendwie kommt sie über die Runden. Schwierig wird es immer dann, wenn etwas kaputt geht. So wie neulich die Mikrowelle. Oder ihre Brille, als sie vor einigen Wochen gestürzt ist, zum dritten Mal in diesem Jahr. Das Geld für neue Gläser hat eine Freundin vorgestreckt. Natürlich bittet sie nicht gern um Geld. Als sie zum ersten Mal zum Sozialbürgerhaus ging, "da hab' ich mich so geschämt". Die Ersparnisse sind längst aufgebraucht. Sie hat auch schon Schmuck verkauft, ein Armband.

Gesundheit, das wünscht sie sich vor allem. "Und ich würd' so gern mal wieder Rindsbackerl essen." Erstere lässt zurzeit zu wünschen übrig, zweiteres wird sie sich vielleicht zu Weihnachten gönnen. Seit der Pflege ihres Mannes macht ihr eine gerissene Sehne am Arm zu schaffen, dazu kommt eine Knochenhautentzündung im Schienbein. Trotzdem geht sie fast jeden Tag raus, zum Friedhof oder zum Einkaufen.

"Ich muss mich bewegen." Wenn nur die Augen besser funktionierten. Es ist verflixt: Wenn sie eine Straße überquert und den Gehsteig fast erreicht hat, sieht sie ihn plötzlich nicht mehr. So ist es zu den Stürzen gekommen. Dankbar ist sie für ihr soziales Netz, ihre Freundinnen. Die fangen sie auf, wenn es mal wieder schwierig wird. "Ich stecke fast jeden Tag in einer Zwickmühle."

In einer Zwickmühle steckt Peter Müller nicht, gefangen aber fühlt er sich auch. "Ich bin mehr oder weniger an die Wohnung gefesselt", sagt der 79-Jährige. Voriges Jahr hatte er zwei Schlaganfälle. Der erste blieb unbemerkt, nach dem zweiten lag er vier Wochen im Krankenhaus, danach folgte die Reha. Er dachte, alles sei ausgestanden - doch im vergangenen Februar erwischte es ihn ein drittes Mal. Von März bis Juni war er zur Reha bei Berchtesgaden. Das tägliche Training, die gute Versorgung, "da hab' ich mich sehr wohlgefühlt". Aber natürlich ging es irgendwann wieder nach Hause, und da ist er nun, in der kleinen Wohnung in der Maxvorstadt, in die er einst mit seiner Lebensgefährtin eingezogen war. Vor vier Jahren ist sie gestorben, sie war schwer krank. "Manchmal ist die Einsamkeit sehr groß", sagt Peter Müller.

Der Rollator ist nun sein ständiger Begleiter, "die Kutsche" nennt er ihn, oder "die Maschine". Müller ist gelernter Werbekaufmann; in Dresden geboren und aufgewachsen, kam er als Kind mit seiner Familie in den Westen. Ein Foto aus der Dresdner Zeit, Bub mit verschmitztem Grinsen, hängt an der Wand, direkt neben dem Tischchen, auf dem sich die Tablettenschachteln auftürmen, morgens acht Pillen, abends vier.

Peter Müller steht trotz allem jeden Tag um sieben Uhr auf. (Foto: Jan A. Staiger)

1956 zog Müller für die Ausbildung nach München. Er heiratete und machte mit seiner Frau ein chinesisches Restaurant auf. So ging es einige Jahre, dann: Scheidung, neue Liebe, zurück in den alten Beruf. 1992 der Umzug in die Wohnung in der Maxvorstadt. Dank der guten Lage hat er es nicht weit zu den Geschäften, die er braucht. Und die Miete ist noch günstig. Doch seit dem Tod seiner Lebensgefährtin ist Müller allein mit den streng dreinschauenden Damen und Herren auf den wuchtigen, dunklen Gemälden, die sie mitgebracht hatte. Er stellt sich vor, dass es sich vielleicht um einen "Earl oder Lord und eine Mylady" handelt. Das Alleinsein macht ihm zu schaffen. Er hat zwei Schwestern, aber die wohnen weit weg.

Nach der Pensionierung hat er das ein halbes Jahr lang ausprobiert: Rentner sein. "Aber das war mir zu langweilig." Er bewarb sich bei einer Firma als Fahrer - und bekam den Job. Seine Aufgabe war es, Autos von Kunden abzuholen und zu ihnen zu bringen. Die längste Tour führte ihn nach Liechtenstein. Zwölf Jahre blieb Peter Müller bei der Firma, "ich hab' das gern gemacht und hätte es weiter gemacht bis ans Ende meiner Tage". Der Job machte ihm Spaß, er lernte interessante Leute kennen. Und er konnte seine Rente aufbessern, die durch die lange Zeit der Selbständigkeit recht dürftig ausfällt. Deshalb ist er auf Grundsicherung angewiesen. Eigentlich wollte Müller nicht aufhören zu arbeiten. Dann kam der Schlaganfall. "Das hat mich mächtig aus der Bahn geworfen."

Er strukturiert seine Tage, indem er trotz allem früh aufsteht, spätestens um sieben. Einmal in der Woche kommt der Pflegedienst, der ihm auch mal den Müll runterbringt oder etwas zu essen einkauft. Einmal in der Woche kommt auch eine Physiotherapeutin, die mit ihm Übungen macht. "Gott sei Dank", sagt Peter Müller. Pflegedienst und Physiotherapie, das sind seine menschlichen Kontakte, "das ist eigentlich so mein Leben". Manchmal wirkt er sehr niedergeschlagen. Er sagt dann: "Ich glaube nicht, dass ich wieder auf die Beine komme." Im nächsten Moment blitzt aber auch wieder seine Lebensfreude durch.

Er liest gerne, seine Schwester hat ihm ein Spiegel-Abo geschenkt, und dann sind da noch die Bücher im Regal, früher kam er ja nie dazu. Aber er hat auf dem rechten Auge nur noch 25 Prozent Sehkraft. Dazu kommt eine Diabetes-Erkrankung als Folge der Schlaganfälle. "Ich darf meine geliebte Schokolade nicht mehr essen und meinen geliebten Wein nicht mehr trinken." Ein neues Bett wünscht er sich, das alte hat er angeschafft, als sie Anfang der Neunzigerjahre in die Wohnung gezogen sind. Er wäre "froh und dankbar, die alte Kiste zu ersetzen". Eine neue Waschmaschine wäre auch schön, nachdem die alte den Geist aufgegeben hat. Er denkt an früher, als er es sich noch gut gehen lassen konnte. Er denkt an Urlaube. Schöne Erinnerungen. "Aber davon kann man nicht abbeißen."

© SZ vom 08.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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