Staatsanwaltschaft ermittelt schlampig:Kunde verprügelt und fast verurteilt

Weil sie ihn für einen Dieb halten, schlagen Mitarbeiter eines Münchner Supermarkts einen Kunden krankenhausreif und zeigen ihn dann auch noch an. Die Staatsanwaltschaft glaubt den Tätern - und beinahe wird Abdul M. auch noch zum Opfer schlampiger Ermittlungen.

Bernd Kastner

Abdul M., 37 Jahre alt, geboren in Afghanistan, lebt seit langem in Deutschland und ist ein unbescholtener Mann. Vor zwei Jahren aber bekam er es plötzlich mit der Justiz zu tun. Zunächst wurde er Opfer gewaltsamer Selbstjustiz: Weil sie ihn des Ladendiebstahls verdächtigten, verprügelten ihn zwei Mitarbeiter eines Supermarkts.

Münchner Bahnhofsviertel, 2007

Im Münchner Bahnhofsviertel wurde ein Kunde eines Supermarkts zusammengeschlagen - die Täter zeigten den Mann auch noch an.

(Foto: Robert Haas)

Und dann wäre M. beinahe auch noch Opfer schlampiger Ermittlungen geworden: Die Staatsanwaltschaft wollte ihn verurteilen und die eigentlichen Täter laufen lassen. Einem Anwalt und dem Oberlandesgericht ist zu verdanken, dass dies doch nicht geschah.

Es war am 8. August 2009, als Abdul M. (Name geändert) in einem Supermarkt im Bahnhofsviertel einkaufte. Er ist dort Stammkunde und hat nach eigenen Angaben Bohnen und Fleisch eingekauft und bezahlt. Als er den Laden verließ, hielt ihn ein Markt-Mitarbeiter auf und beschuldigte ihn, Rindfleisch für 50 Euro eingesteckt zu haben.

M. dachte, den Irrtum schnell aufklären zu können. Doch das dauerte dann länger als zwei Jahre, und war äußerst schmerzhaft. Denn später an jenem Augustabend kauerte M. im Hof des Supermarkts, Blut lief aus einer Wunde am Kopf.

Was war passiert? Zwei Markt-Mitarbeiter, der 41-jährige Chef und ein 23-jähriger Verkäufer, behaupteten, der "Dieb" habe versucht abzuhauen. Dabei sei er gegen eine Wand gerannt und habe sich am Kopf verletzt. Eine Nachbarin, die vom Balkon aus das Geschehen beobachtet haben will, bestätigte dies.

Abdul M. erzählt eine andere Geschichte: Er sei in den Hinterhof des Markts gebeten worden, wo ihm ein Mitarbeiter angeboten habe, nicht die Polizei zu verständigen, wenn er 500 Euro Strafe zahle. M. aber wollte die Sache durch die Polizei klären lassen.

Ein Mitarbeiter entlastet seinen Vorgesetzten

Dann seien die Supermarkt-Leute gekommen. Der Verkäufer habe ihn festgehalten, während der Chef ihm mit einem Knüppel in die Kniekehlen und auf den Kopf geschlagen habe. Stark blutend alarmierte M. die Polizei, ein Krankenwagen brachte ihn in die Klinik. Diagnose: eine acht Zentimeter lange Kopfplatzwunde, ein Schädelhirntrauma, ein Hämatom an der Kniekehle, Pulsieren im Kopf, Angstgefühle, Schlaflosigkeit.

Was folgte, waren zwei Strafanzeigen. Der Supermarkt-Chef zeigte M. wegen Ladendiebstahls an; Abdul M. erstattete Anzeige wegen gefährlicher Körperverletzung. Das Ermittlungsverfahren gegen den Markt-Chef wurde im April 2010 eingestellt, weil es keinen Beleg für die Körperverletzung gebe, im Gegenteil: Zwei Zeugen bestätigten die Version der Selbstverletzung.

Staatsanwaltschaft lehnte ein Gutachten ab

Dass ein Mitarbeiter ausgerechnet seinen Vorgesetzten entlastete, machte offenbar nicht stutzig. Abdul M. suchte Hilfe bei einem Strafverteidiger. Anwalt Florian Schneider wies die Ermittler auf Widersprüche in den Zeugenaussagen hin. Außerdem beantragte der Verteidiger ein Gutachten. Ein Arzt könne klären, ob die Verletzungen M.s vom Hinfallen, vom Gegen-die-Wand-Laufen oder von einem Knüppel stammten. Die Staatsanwaltschaft lehnte ein Gutachten ab: Man sah keine Anhaltspunkte für die Knüppel-Version.

Das Verfahren gegen M. wollte die Staatsanwaltschaft zunächst ganz leise beenden: Gegen Zahlung von 150 Euro an eine gemeinnützige Einrichtung wäre es erledigt gewesen. M. lehnte ab, es wäre das Eingeständnis seiner Schuld gewesen. Er aber wollte nicht akzeptieren, zunächst zu Unrecht als Dieb beschuldigt und Opfer von Selbstjustiz zu werden, dann die Täter ungestraft zu sehen und selbst belangt zu werden.

Sein Anwalt machte die Ermittler darauf aufmerksam, dass die Verletzung an der Oberseite des Schädels und in der Kniekehle gar nicht vom Rennen gegen die Wand stammen könne. Schneider regte erneut ein Gutachten an. Seine Beschwerde gegen die Einstellung des Verfahrens gegen den Supermarkt-Chef lehnte ein Oberstaatsanwalt ab: kein Knüppel gefunden, zwei Zeugen, kein Zweifel an M.s Selbstverletzung, Gutachten nicht nötig. Die Generalstaatsanwaltschaft schloss sich dem an: alles in Ordnung.

Im Mai 2010 wurde die Anklage gegen M. fertig. Der Vorwurf lautete auf Diebstahl und falsche Verdächtigung des Supermarkt-Chefs. Nun rief Anwalt Schneider das Oberlandesgericht an. Dieses sollte die Staatsanwälte dazu bringen, die Ermittlungen gegen den Markt-Leiter wieder aufzunehmen. Zum vierten Mal forderte der Anwalt von M. ein ärztliches Gutachten. Und wieder lehnte die Staatsanwaltschaft ab, abermals folgte ihr die Generalstaatsanwaltschaft.

Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Entlastungszeugen

Plötzlich aber kam die Wende, nach 14 Monaten. Das OLG folgte der Argumentation Schneiders und regte die Wiederaufnahme des Verfahrens an. Mit wenigen Sätzen zerpflückte der zuständige Richter die bisherigen Ermittlungen. Er hatte getan, was die Staatsanwaltschaft abgelehnt hatte: Mit einem Rechtsmediziner zumindest mal zu sprechen. Die Verletzungen und die ärztlichen Atteste ließen nur die Version des vermeintlichen Diebs als wahrscheinlich erscheinen, ein Sturz sei praktisch ausgeschlossen.

Dass der Knüppel nicht gefunden wurde, sei nicht relevant: Man hätte ihn beiseiteschaffen können, außerdem habe die Polizei nach einem Knüppel nicht gesucht. Das OLG hat auch Zweifel an der Glaubwürdigkeit der beiden Entlastungszeugen: Die Nachbarin sei offenbar eine Bekannte des Beschuldigten; und der Verkäufer hätte nicht als Zeuge, sondern als Beschuldigter geführt werden müssen, belehrt das OLG die Staatsanwaltschaft. Schließlich soll dieser den vermeintlichen Ladendieb gehalten haben, während der Chef zugeschlagen habe.

Erst jetzt forderte die Staatsanwaltschaft die Kripo auf, weitere Zeugen zu vernehmen; erst jetzt wurden Fotos vom Tatort angefertigt; erst jetzt wurde geklärt, wie die Nachbarin zu den Schlägern steht. Und siehe da: In einer Vernehmung gab die Frau zu, gelogen zu haben, M. sei mit Brettern geschlagen worden. Auf die Frage, warum sie gelogen habe, erklärte sie: Sind halt die Nachbarn.

Erneute Anklage zwei Jahre nach der Tat

Auf SZ-Nachfrage rechtfertigt die Staatsanwaltschaft ihr Vorgehen: Zum jeweiligen Zeitpunkt sei jede Entscheidung nachvollziehbar gewesen. Den Vorwurf, schlampig ermittelt zu haben, kommentieren die Ermittler nicht.

Knapp zwei Jahre nach der Tat erging erneut Anklage, nun gegen den Supermarkt-Chef und den Verkäufer. Vor dem Amtsgericht gestanden die Angeklagten nun die Schläge, verurteilt wurde der eine zu einem Jahr, der andere zu neun Monaten Haft auf Bewährung. Sie verpflichteten sich, dem Opfer 1500 Euro zu zahlen.

Die Anklage gegen Abdul M. wegen Ladendiebstahls hat die Staatsanwaltschaft zurückgezogen und eingestellt. Auch dafür brauchte es einen Hinweis eines Richters, diesmal vom Amtsgericht.

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