Süddeutsche Zeitung

Suche nach Vermissten:Schwestern finden sich nach 65 Jahren wieder

Lesezeit: 2 min

Nach dem Zweiten Weltkrieg wird Inge Wolf von ihrer Schwester getrennt. In München treffen sich die beiden nun wieder.

Von Florian Haenes

Das letzte Mal hatte Inge Wolf ihre Schwester im Jahr 1947 in den Armen gehalten. Sie selbst war da gerade vier Jahre alt, die Schwester neun Monate. Viel zu leicht wog sie auf Wolfs Armen, Nahrung war knapp. Die 23-jährige Mutter war mit den zwei Mädchen aus Polen geflohen und nach langer Fahrt in Viehwaggons in einer kalten Abstellkammer bei einem Bauern in Bayern untergekommen.

Inge Wolf erinnert sich, dass ihre Mutter mit sich gerungen habe. Sollte sie die Tochter zur Adoption freigeben? Sie sei doch keine Rabenmutter. Aus schierer Not habe sich die Mutter schließlich entschieden, ihr neunmonatiges Baby in fremde Hände zu geben.

Nach dem Tod der Mutter macht sich Inge Wolf auf die Suche

Als die Mutter vor vier Jahren starb, entschied Inge Wolf, sich auf die Suche nach ihrer Schwester zu machen. Im September 2011 stellte sie eine Suchanfrage beim Suchdienst des Roten Kreuzes in München. Seit 70 Jahren bringen die Mitarbeiter des Roten Kreuzes, die Büros in Berlin, Hamburg und München haben, Angehörige zusammen, die sich in den Kriegswirren verloren haben.

"Wir hatten damals nur wenige Hilfsmittel", sagt Marianne von Geldern, die den Suchdienst in München mit aufgebaut hat. Mehr als 600 Mitarbeiter hätte der Suchdienst zwischenzeitlich gehabt. "Alles musste mit der Hand dokumentiert, verkartet und einsortiert werden."

Ende der 50er Jahre war die Suchkartei auf 225 Bände mit insgesamt 125 000 Seiten angewachsen. Alphabetisch geordnet waren darin die Identitäten und Bilder der Vermissten abgedruckt. Die Bücher brachte das Rote Kreuz dann bis in die entlegensten Dörfer, damit Angehörige darin nach den Bildern ihrer Vermissten suchen konnten. Mehr als eine Millionen Schicksale konnten bis heute geklärt werden.

Auch heute verlieren sich Angehörige auf der Flucht

"Auch heutzutage werden Familien auf der Flucht auseinandergerissen", sagt Brigitte Meyer, Vizepräsidentin des Bayrischen Roten Kreuzes. Wer in den überfüllten Zügen in Mazedonien oder bei der Überfahrt in Richtung der europäischen Küste Angehörige aus den Augen verloren hat, kann auf der Internetseite "familylinks.icrc.org" sein Foto hochladen und angeben, wen er vermisst.

Die Suchanfrage von Inge Wolf erreichte im September 2011 Christoff Raneberg, den Leiter der Archiv- und Dokumentationsstelle des Suchdienstes in München. 70 Jahre nach Gründung des Suchdienstes spürt sein Team aus Historikern, Linguisten und Informatikern weiter Vermisste auf.

So auch die Schwester von Inge Wolf. Fast ein Jahr nach der Suchanfrage, im August 2012, erhielt die gesuchte Schwester Lydia Brigitte Teuber einen Brief des Roten Kreuzes. Zunächst habe sie an Werbung gedacht, den Brief dann aber doch geöffnet. Ob sie bereit sei, mit ihrer Schwester Inge Wolf Kontakt aufzunehmen, hätte der Suchdienst gefragt - und die Nummer der Schwester gleich dazu geschrieben.

Ohne es zu wissen, lebten die Schwestern nah beieinander

Die Schwestern trafen sich schließlich am Ostbahnhof. Ihre kleine Schwester habe ihrer Mutter so ähnlich gesehen, besonders wegen der hübschen, blauen Augen, erinnert sich Wolf. "Bist du es, meine Schwester", habe Teuber gefragt und Inge Wolf dann den Arm genommen. Jahrelang hatten die Schwester nah beieinander gewohnt - in Mühldorf und Simbach, zwei Dörfern am Inn.

Teuber hatte eine glückliche Kindheit am Tegernsee. Unbemerkt hatte sich ihre leibliche Mutter immer wieder nach ihr erkundigt. Inge Wolf hingegen litt unter dem Stiefvater, den ihre Mutter später geheiratet hatte. "Ein Leben lang habe ich mir eine Schwester gewünscht", sagt Wolf heute. Dank des Suchdienstes des Roten Kreuzes hat sie sie nun gefunden.

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Quelle:
SZ vom 26.08.2015
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