Türmer des Alten Peter:"Ich fühle mich immer wie auf einem Berggipfel"

Joachim Wallner, Türmer des Alten Peter, erklimmt das Wahrzeichen zehnmal am Tag. Er erzählt von Höhenangst, Hochgefühl und seinen luftigen Eindrücken.

Von Philipp Crone

Ein Schlüssel, ein Mann, 306 Stufen, 56 Meter, täglich Tausende Besucher. Warum wollen alle auf den Alten Peter? Und warum will ein Chemie-Ingenieur Türmer sein? Über einen Mann, der im Zentrum der Stadt steht, über die irrationale Faszination des Überblicks - und natürlich über Geschichte und Anekdoten.

Joachim Wallner, 43, kurzes graudunkles Haar, Karohemd, das süße Teigteilchen in der Papiertüte vom Bäcker gegenüber in der Hand, steigt an einem sonnigen Mittwochmittag die ersten Stufen nach oben. "Das ist der Erlebnistunnel", sagt Wallner. Er geht, wie er spricht, immer in Ruhe einen Schritt und ein Wort nach dem anderen. Wallner steht im Erlebnistunnel, das ist eine Röhre auf den ersten Metern, durch die nur einer durchpasst. Eine Gruppe von Schülern kommt runter, "please step back", sagt Wallner und lächelt. Es ist ein Lächeln, dem man ansieht, dass Wallner es entschuldigend meint. Er will niemandem Befehle erteilen. Seit drei Jahren ist er nun Türmer, wobei das eigentlich grundfalsch ist.

Wallner sitzt die meiste Zeit am Turm, nicht im Turm. In einem Holzhäuschen, auf das mit einem Schild an der Kirche hingedeutet wird mit der Aufschrift "Münchens schönster Ausblick". Ist alles in Ordnung, sitzt Wallner unten und tauscht Fünf-Euro-Scheine in eine Eintrittskarte und ein Zwei-Euro-Stück um, sagt "Thank You" zu den Asiaten, Amerikanern und Italienern, "Dankeschön" zu den Münchnern. Wallner ist in dem Durcheinander immer bedächtig, mit Worten und Bewegungen. Er ist die Ruhe vor dem Turm.

Der erste Irrtum über den Turm sei ja, sagt Wallner, dass nur Touristen hochlaufen. "Manchmal sind es nur Touristen, manchmal nur Münchner." Zum Beispiel der 85-Jährige, der neulich eine Karte kaufte, "weil er noch einmal hoch wollte". Wallner lässt den Satz so stehen. Noch einmal hoch auf den Turm und über die Stadt schauen, von Münchens ältester Pfarrkirche aus.

Richtige Türmer, und da folgen die Worte etwas schneller aufeinander, "gab es auf dem Alten Peter bis 1901, zu der Zeit durften die den Turm nicht verlassen, wenn sie im Dienst waren, das gab harte Strafen". Wallner ist mittlerweile im dritten Stock angekommen, das Ziel liegt auf 56 Metern Höhe über dem Marienplatz. Dort gibt es den Raum, den die Türmer früher nutzten. "Der war immer besetzt, denn die Aufgabe des Türmers war ja, immer über die Stadt zu wachen." Näherten sich Menschen der Stadt, mehr als drei auf einmal, gab der Türmer ein Signal und warnte, es konnte sich ja um einen Angriff handeln. Vor allem ging es um den Alarm bei Feuer.

Wallner ist ein wenig außer Atem nach vier Stockwerken. Er war zwar mal Eishockeyspieler, zweite Bundesliga, aber jetzt hat er weite Hemden an. "Es gab das Pyroskop, auch in München", sagt Wallner. Das war eine Vorrichtung, mit der ein Türmer, wenn er einen Brand entdeckt hatte durch sein Fernglas, den Ort, an dem er ausgebrochen war, bestimmen konnte. Zunächst schrie er seine Warnung in die Stadt. "Feurio!" war das Wort dafür, und mittels des Pyroskops und einer Karte kombinierte er, ob der Brand nun in der heutigen Ludwigsvorstadt oder doch dahinter in Sendling ausgebrochen war.

Heute hängt in Wallners Holzhäuschen unten am Eingang zur Treppe neben dem Bildschirm mit Dutzenden Kameras, die über den Aufstieg verteilt sind, die Lautsprecheranlage, mit der er zu den Besuchern im Treppenhaus sprechen und sie bitten kann, den Turm zu verlassen, auch ein kleines Plastikkästchen mit einem "Brandmeldetableau". Brandmelder sind im Alten Peter gut verteilt.

"Ich hatte ja am Anfang richtige Höhenangst."

Wallner steigt nach oben und überlegt. Warum hat er diesen Job angenommen? In seinem Chemie-Beruf hat er deutlich mehr verdient. Seine Frau, die in der Kirchenverwaltung arbeitet, machte ihn dann vor drei Jahren auf die Stelle aufmerksam. Der Vorgänger, der den Job 20 Jahre machte, ging in Rente. Aber Wallner als Türmer? "Ich hatte ja am Anfang richtige Höhenangst." Er konnte oben nicht an die Balustrade treten. Wallner sagt: "Aber ich wollte etwas Sinnvolles tun." Klingt leicht nach vorher ausgedacht. Aber vielleicht kommt man dem Gedanken weiter oben ja noch auf die Spur. Außerdem, sagt Wallner, habe er dauernd mit Menschen zu tun. Mit solchen, die Wechselgeld entgegennehmen. Zu tun ist vielleicht etwas übertrieben. Aber Wallner ist ja noch nicht oben.

Wallner trägt den Turmschlüssel, groß wie ein altes Handy, an seinem Schlüsselbund. Es kommen ihm Gruppen entgegen, einige schnaufen, andere filmen, andere schnaufen und filmen. Er selbst steigt an manchen Tagen bis zu zehnmal hoch. Wenn etwas passiert, muss er los. "Einmal ist eine Frau oben kollabiert, da musste ich natürlich gleich hoch." Es stellte sich heraus, dass sie nicht selbst runterkommen würde. Der Turm wurde gesperrt, die Feuerwehr stieg hoch, transportierte sie zunächst über die Treppe runter und über ein Fenster dann mit der Feuerwehrleiter ganz nach unten.

Auf dem Weg kommt man an Metallstangen vorbei, die zwischen den Wänden wie Streben montiert sind. "Der Alte Peter hatte bis zu einem Blitzschlag 1607 zwei Turmspitzen", sagt Wallner. Nur eine wurde wieder aufgebaut und durch die veränderte Statik muss der verbleibende Turm nun vor dem Auseinanderdriften bewahrt und gestützt werden. Vielleicht meint Wallner das, wenn er von einem sinnvollen Job spricht: den Besuchern etwas über den Turm, die Kirche und die Stadt erzählen zu können. "Ich werde da unten dauernd gefragt, ich bin eine Art Ein-Mann-Touristen-Information." Der eine frage, was er sich anschauen soll, wenn er nur einen Tag Zeit hat, andere erkundigen sich nach dem Weg oder wo es die beste Weißwurst gibt. Auf den Turm schickt Wallner natürlich alle.

Mittlerweile ist er in das Nebentreppenhaus abgebogen. Der Turm braucht für den Fluchtweg eine zweite Möglichkeit, heil unten rauszukommen, hat deshalb zwei Treppenhäuser. Die zweite Treppe führt direkt an den Kirchenglocken vorbei. Wallner bleibt stehen, die Worte gehen weiter. "Neulich erst wurde die große Glocke ausgetauscht." Dafür wurde eigens das Nebentreppenhaus entfernt, die Glocke abgeseilt und seitlich rausgeschafft.

"Ich habe hier oben ein Heimatgefühl"

Acht Glocken sind es insgesamt, aber nur sieben hängen, "die Arme-Sünder-Glocke ist unten ausgestellt." Dafür hängt die älteste hier, sie ist von 1327. Zur NS-Zeit sollten die Glocken eingeschmolzen werden. Eine durfte dann doch bleiben, und wenn die Glocken läuten, dann klingt ein Ton noch immer so, wie schon die vergangenen 691 Jahre.

"Zuerst wurden hier 1000 nach Christus Holzgebäude gebaut, das war die erste urkundliche Erwähnung, da entstand an dieser Stelle wohl auch die erste Kirche." Wallner stockt, die Glocke schlägt zur halben Stunde zwei Mal. Direkt neben ihm. Es brummt danach, als stünde Wallner neben dem Motor eines Containerschiffes. Der Türmer lächelt und geht die letzten Stufen hoch ins Türmer-Zimmer.

Die Schwarz-Weiß-Bilder an den Wänden zeigen die Doppelspitze der Kirche, später die heutige Einfachspitze, zwei Notenständer liegen auf der Sitzbank neben dem Tisch, die sind von den Petersturm-Musikern, die samstags hier spielen. Wallner schaut aus dem Fenster. Viel erkennt er nicht. Besucher, die im Minutentakt hochkommen, stehen davor und filmen.

"Ich habe hier oben ein Heimatgefühl", sagt er, "München ist von hier ein kleines Dorf." Und auch wenn er unten ist, fühlt es sich an wie ein Dorf. "Jeden Tag treffe ich morgens die selben Leute, wenn ich um neun komme. Man kennt sich, grüßt sich." Er macht dann einen morgendlichen Kontrollgang, steht ganz alleine oben und schaut runter auf den Marienplatz, den Rathausturm, auf der anderen Seite auf die grünen Dächer der Viktualienmarktstände, aufs Tal, die Kaufingerstraße.

Joachim Wallner ist mittendrin und doch ganz weit weg. Ein unbeobachteter Beobachter.

Der Türmer schaut auf den Kontrollgängen, ob irgendwo ein Nagel heraussteht, ein Griff abgebrochen ist, der Alarm funktioniert, solche Dinge. "Wir hatten mal eine Frau hier, die hat oben auf einmal panische Höhenangst bekommen. Die habe ich dann ganz langsam runterbegleitet", sagt er. Ansonsten kommen viele zu ihm, weil sie etwas verloren haben. Handys rutschen in kleine Spalten im Treppenhaus, "Amerikaner verlieren gerne ihre Flipflops, und ein Japaner kam einmal zu mir und meinte, er hätte seine Drohne verloren." Dem erklärte Wallner dann, dass Drohnen in der Innenstadt verboten sind. So wie er den beiden jungen Männern hier oben gleich freundlich erklärt, dass sie keine Bierflaschen mit raufnehmen dürfen. Wenn da einer eine Flasche fallen lässt, kann es böse ausgehen.

"Am meisten hat mich eine amerikanische Frau, Mitte zwanzig, bewegt. Sie wollte hoch und saß im Rollstuhl." Die Frau stemmte sich aus dem Rollstuhl und stützte sich mit ihren Händen auf dem Geländer ab. So schaffte sie den Aufstieg, 306 Stufen in 45 Minuten. "Sie ist auch selbst wieder runtergelaufen." Geklettert. "Sie war völlig fertig, aber sehr glücklich." So erlebt Wallner das bei allen, die wieder runterkommen. "Die haben alle ein Hochgefühl." Oft bedanken sie sich auch bei dem Mann im Holzhäuschen.

Mittags um kurz nach 14 Uhr ist der Rundgang eng besetzt. Wallner schaut runter auf seine Stadt. "Selbst in den nur drei Jahren, die ich hier bin, habe ich schon die größte Veränderung gesehen: Es wird immer enger." Auf dem Marienplatz komme man ja heute gar nicht mehr durch. "Immer mehr Besucher, immer mehr Menschen." Auch auf dem Alten Peter. Diejenigen, die aus Asien kommen, besteigen den Turm auch dann, wenn es absolut neblig ist und man keine 20 Meter weit sieht, also nicht einmal den Rathausturm gegenüber. "Die haben das auf ihrer Liste und kommen trotzdem hoch." Auch Regen stört nur wenige, die Aussicht ist auch unter einem Schirm gut.

Wallner schaut von oben auf Tausende zugleich

Die Aussicht. Am Abend, wenn um 18 Uhr die letzten Besucher abgestiegen sind und bevor der Türmer zu seiner Frau und den zwei Kindern heimfährt, macht Wallner einen Kontrollgang. "Das ist unglaublich, dann da alleine oben zu stehen." Unten die Feierabendhektik, das Stadtrauschen, der Wind, ganz nah und doch so weit weg. Er steht dann da, eine Viertelstunde, jeden Abend. "Es beruhigt einen Menschen doch immer, wenn er eine große Fläche überblickt, das gibt Sicherheit." Wallners Worte machen sich wieder auf den Weg, sie wissen noch nicht ganz, wohin. Der bedächtige Chemie-Ingenieur steht oben und denkt nach. Warum kommen so viele Menschen hier hoch, warum wollte er diesen Job machen? "Ich fühle mich immer wie auf einem Berggipfel." Einem Stadtgipfel, morgens mit dem wuchtigen Licht, leiserem Stadtrauschen und wenigen Menschen, dann viele schnaufende Treppensteiger, die high runterkommen, abends schräge Sonne, Lärm und Wuselei.

Wallner schaut von oben auf Tausende zugleich, den Einkäufer auf dem Markt, den Oberbürgermeister in seinem Eckbüro, die gehetzte Touristin, der entspannte Rentner, die Polizeistreife. Auf das wimmelnde Wimmelbild, tausendfacher Alltag in Miniaturform. Er kann allen gleichzeitig beim Leben zusehen, alles geht seinen Gang. Gibt es etwas Beruhigenderes, etwas Friedlicheres? Da kann er dann auch seinen Gang gehen, noch einmal 306 Stufen.

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