Heimkinder:Gewalt als bewährtes Mittel der Erziehung

Heimkinder: Die Skulptur "Mädchen mit Taube" von Max Kratz in Feldafing: Im dortigen Heim des Paritätischen Wohlfahrtsverbands mussten Kinder laut einer Studie unter Gewalt leiden.

Die Skulptur "Mädchen mit Taube" von Max Kratz in Feldafing: Im dortigen Heim des Paritätischen Wohlfahrtsverbands mussten Kinder laut einer Studie unter Gewalt leiden.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Der Paritätische Wohlfahrtsverband Bayern legt eine erste Studie zu Misshandlung und sexuellem Missbrauch im Haus Maffei in Feldafing vor. Sie bestätigt die Schilderungen der Betroffenen. Unklar bleibt aber, ob ein Netzwerk für die Taten verantwortlich war.

Von Bernd Kastner und Rainer Stadler

Das Leid, das die ehemaligen Heimkinder im Haus Maffei erfahren hätten, sei nicht wiedergutzumachen, schreiben die Verantwortlichen des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Bayern. Aber der Verband trage Verantwortung "für eine umfassende Aufarbeitung und Anerkennung des Leids". Deshalb präsentiert er nun eine erste Studie, die bestätigt, dass es in der Einrichtung in Feldafing am Starnberger See "in den 1960er-Jahren eine die Rechte der Heimkinder verletzende pädagogische Praxis, sexualisierte Gewalt und Misshandlungen" gegeben habe.

Annette Eberle, Professorin für Pädagogik in der Sozialen Arbeit an der Stiftungshochschule München, hat in mehreren Archiven Unterlagen gesichtet, mit Vertretern des Paritätischen gesprochen, mit ehemaligen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Heims, Betroffenen und Einwohnern aus Feldafing. Sie hat die Formen der Gewalt untersucht, die Heimkinder dort erleben mussten, "demütigende Strafen, die nachhaltige Angstzustände auslösten, Prügel und andere Körperstrafen sowie sexualisierte Gewalt und Misshandlungen seitens des Heimpersonals und des Gemeindepfarrers im Ort".

Auch in der Schule, die an das von 1953 bis 1972 betriebene Heim angegliedert war, hätten die Kinder Unrecht erlitten, "sowohl durch gewalttätige Erziehungsmittel, als auch durch mangelnde Förderung und Ausbildung". Diese Tatbestände, schreibt Eberle, erforderten eine "umfassende historische Aufarbeitung hinsichtlich der Verantwortung von Einrichtung, Träger sowie zuständigen Wohlfahrts- und Schulbehörden".

Obwohl es Hinweise gab, geschah lange nichts

Lange Zeit kam der Landesverband Bayern des Paritätischen seiner Verantwortung, die er mit der Präsentation der Vorstudie noch einmal betont, nicht nach. Schon vor mehr als zehn Jahren erhielt der Vorstand Hinweise, dass es in dem Heim zu brutalen Übergriffen gekommen war. Nichts geschah. Auch als der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche publik wurde, sah der Verband keinen Anlass, die Vergangenheit der eigenen Einrichtung zu untersuchen. Das änderte sich erst im Herbst 2020. Eine private Recherchegruppe, der auch drei ehemalige Heimkinder der Einrichtung in Feldafing angehörten, kontaktierte damals die Verantwortlichen.

Die Betroffenen erinnerten sich, dass sie in ihrer Kindheit über lange Zeit im Keller des Heims eingesperrt gewesen, dort misshandelt und missbraucht worden seien. Zudem seien sie von einer Einrichtung zur nächsten gereicht worden und auch dort sexuellen Übergriffen und physischer Gewalt ausgesetzt gewesen. Zwischen Feldafing, Kloster Ettal, dem Hänsel-und-Gretel-Heim der Stadt München in Oberammergau sowie dem Jugendheim Salesianum in München sei es zu einem regelrechten Austausch von Kindern gekommen, was nahelege, dass eine Art Netzwerk bestanden habe. Ende Januar 2021 berichtete die SZ ausführlich über diesen Verdacht. In der Folge setzte die Stadt München eine Untersuchungskommission ein, die dieser Tage ihre Arbeit aufnimmt.

In ihrer Vorstudie gibt Eberle zu erkennen, wie schwierig es werden könnte, alle im Raum stehenden Vorwürfe zu prüfen. Die Akten der ehemaligen Heimkinder seien nicht mehr auffindbar in den Archiven des Paritätischen, die potenziellen Täterinnen und Täter längst verstorben. Insbesondere die These, dass es ein Netzwerk gegeben habe, beruhe auf "der Deutung der subjektiven Missbrauchserfahrungen" von schwer traumatisierten Betroffenen. Faktische Belege hätten sich dafür bisher nicht gefunden, lediglich ein ehemaliger Mitarbeiter des Heims habe von Verbindungen zu einer anderen Einrichtung berichtet. Eberle geht davon aus, dass sich die These, wenn überhaupt, nur in Zusammenarbeit mit den anderen Einrichtungen und der Stadt München klären lasse.

Das Personal war in der NS-Zeit ausgebildet worden

Keine Zweifel gebe es daran, dass im früheren Haus Maffei, wie in so vielen anderen Heimen in der Nachkriegszeit, ein Klima der Gewalt herrschte. Personal und Heimleitung waren während der NS-Zeit ausgebildet worden, der Leiter des Münchner Jugendamts, das viele Kinder nach Feldafing schickte, war der Rassenhygieniker Hans Luxenburger. Eine "ideologiekritische Auseinandersetzung" mit der Sonderpädagogik während des Dritten Reichs habe nie stattgefunden, schreibt Eberle. Ziel der Heime sei es gewesen, "bildungsunfähige" Kinder auszusortieren. Es stelle sich die Frage, ob dieses Denken auch nach dem Krieg fortbestand - und ob die Ideologie der "Minderwertigkeit" auch später als "Legitimation für das praktizierte Unrecht in Schule und Heim" diente.

Nachweislich habe das Jugendamt München seine Aufsichtspflicht verletzt. Mehrere Eltern, heißt es in der Vorstudie, hätte sich über die gewalttätige Behandlung ihrer Kinder beschwert. Die Klagen seien vom Landesjugendamt, dem Jugendamt München, dem Paritätischen Wohlfahrtsverband und der Leitung des Heims abgewiesen worden. In einem Fall habe man eine Mutter, die sich an die Verantwortlichen wandte, als unglaubwürdig und asozial stigmatisiert.

Der Paritätische hat einen Beirat mit unabhängigen Expertinnen und Experten für die Aufarbeitung eingesetzt, der nun darüber entscheiden soll, ob Eberle eine Hauptstudie beginnt. Für diese Arbeit sind mindestens 24 Monate veranschlagt. Eberle hofft, dass sich noch weitere Betroffene und Zeugen melden. Sie regt zudem einen "Ort der Erinnerung und Anerkennung" an, der in Zusammenarbeit mit der Stadt München eingerichtet werden soll. Wünschenswert sei eine Schreib- und Dialogwerkstatt, die nach den Bedürfnissen der Betroffenen organisiert ist. Als Vorbild könne die Gedenkstätte Torgau dienen, die das Unrecht dokumentiert, das Kindern in dem Umerziehungsheim der DDR erlitten.

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Marie Mattfeld Haus, 2021, Oberammergau

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