Proteste:"Die jungen Leute heute sind nicht blöder als wir damals"

Johano Strasser, 79, ist Politologe, Publizist und Schriftsteller.

Johano Strasser ist Mitglied der Grundwertekommission der SPD, bis 2013 war er Präsident der Schriftstellervereinigung PEN-Zentrum Deutschland.

(Foto: picture alliance / dpa)

Der Politologe Johano Strasser erkennt in den aktuellen Aktionen von Studenten Parallelen zur 68er-Bewegung.

Interview von Christina Hertel

Die 68er-Bewegung war laut, radikal und hat am Ende die Gesellschaft verändert. Heute, 50 Jahre später, gehen wieder junge Leute auf die Straße, die schrill auftreten: Ein Zusammenschluss von Münchner Kunststudenten, der sich selbst "Polizeiklasse" nennt, machte einen Schweigemarsch durch die Innenstadt, stellte Überwachungskameraattrappen in der Isar auf und erbrach blaue Farbe vor der Staatskanzlei.

Ihr Protest richtete sich gegen das Polizeiaufgabengesetz, gegen die Asylpolitik der CSU und gegen Innenminister Horst Seehofer. Gibt es Parallelen zu den 68ern? Wiederholt sich gar die Geschichte? Antworten von einem, der damals dabei war: Johano Strasser, 79, Politologe und Schriftsteller, studierte in den Sechzigern Philosophie und wechselte schließlich von der APO zu den Jusos.

SZ: Herr Strasser, kommt die 68er-Bewegung zurück?

Johano Strasser: Es gibt auf jeden Fall Parallelen - besonders zur 68er-Bewegung in Frankreich. Der Protest ging dort mehr von den Künstlern aus, von Malern, Musikern und Schriftstellern, und war insgesamt fröhlicher als in Deutschland. Nicht umsonst hieß damals ein zentraler Slogan des Pariser Mai: "Fantasie an die Macht!" Die Situationisten haben damals in Paris ähnliche Aktionen wie die Polizeiklasse gemacht.

Welche denn?

Sie zogen zum Beispiel mit Clownsmasken durch die Stadt, um Aufmerksamkeit zu erregen. Ihnen war es wichtig, mit ästhetischen Interventionen das Bewusstsein der Menschen zu stören. Sie beriefen sich dabei auf Guy Debord und sein 1967 erschienenes Buch "La société du spectacle". Darin betont er, was für eine große Rolle öffentliche mediale Inszenierungen haben.

In Deutschland gab es aber damals doch auch eine Art Spaßprotest.

Das stimmt. Auch in Deutschland wurde gelegentlich versucht, das Establishment durch ästhetische Intervention aus der Fassung zu bringen. Als Fritz Teufel vor Gericht stand und der Richter ihn aufforderte, sich zu erheben, antwortete er: "Wenn es der Wahrheitsfindung dient." Dieser Satz wurde berühmt. Doch Künstler waren in der 68er-Bewegung in Deutschland weniger präsent. Das setzt erst etwas später mit Klaus Staeck und seiner ungeheuer wirksamen politischen Plakatkunst ein.

Was unterscheidet aus Ihrer Sicht die Aktionen der Polizeiklasse von denen der 68er-Bewegung?

Die Aktionen der 68er-Bewegung in Deutschland waren praktisch das erste große emanzipatorische Ereignis nach dem Zivilisationsbruch der Naziherrschaft. Es war damals sehr leicht, in die Zeitung oder ins Fernsehen zu kommen. Politischer Protest war für die Normalgesellschaft eine unerhörte Sensation. Heute ist es für eine Protestbewegung viel schwerer, auf sich aufmerksam zu machen. Da muss man sich schon etwas Neues einfallen lassen.

Inwiefern gelingt das?

Ich denke, die Polizeiklasse macht das sehr geschickt, indem sie mit ästhetischen Reizen arbeitet. Wir sind eine Mediengesellschaft, ohne Spektakel geht nichts mehr in die Köpfe. Bei dem Schweigemarsch durch die Innenstadt zum Beispiel fragt man sich: Was wollen diese jungen Leute eigentlich? Und wenn man es schafft, dass sich Menschen diese Frage stellen, hat man schon viel gewonnen.

Doch während der 68er-Bewegung war das gesamte gesellschaftliche Klima ein anderes. Die Menschen demonstrierten gegen starre Strukturen und die Nichtaufarbeitung des Nationalsozialismus. Heute herrscht maximale Freiheit.

Ich glaube, das ändert sich seit einiger Zeit wieder. Der ungarische Präsident Viktor Orbán, der offen für eine "illiberale Demokratie" eintritt, ist der beste Freund der CSU, in Polen wird die Gewaltenteilung abgeschafft, und auch bei uns in Deutschland breiten sich antidemokratische und nationalistische Strömungen aus. Es ist nicht sicher, ob wir in zehn Jahren noch ohne Pass über die europäischen Grenzen reisen können. Plötzlich werden wir alle wieder mit der Nase darauf gestoßen, dass wir uns um die Welt kümmern müssen. Ich habe nicht den Eindruck, dass ich meine Enkel in eine heile Welt entlasse.

Der Slogan der Polizeiklasse heißt "Nein". Das klingt nicht sehr konstruktiv.

Protest fängt immer mit einem "Dagegen" an. Die Vorschläge, wie es besser sein könnte, werden zumeist erst später ins Spiel gebracht.

Die 68er-Bewegung hat die Gesellschaft verändert. Könnte die Polizeiklasse aus Ihrer Sicht so ein Potenzial haben?

Damals, Anfang der Sechzigerjahre, fing auch alles sehr klein und unscheinbar an, bis es schließlich eine Bewegung wurde, die fast die gesamte Jungend mit sich riss. Ich bin fest davon überzeugt, dass die jungen Leute heute nicht blöder sind als wir damals. Ich treffe viele junge Menschen, denen nicht genügt, was ihnen die Gesellschaft an Sinnangeboten bietet, denen der platte Konsummaterialismus nicht genügt. Man sieht ja, was ihnen alles zugemutet wird: verschulte Universitäten, unbezahlte Praktika, befristete Stellen und eine Politik, die die Zukunft verspielt. Man sollte sich nicht darauf verlassen, dass sich die Jugend da ewig ruhigstellen lässt.

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