Süddeutsche Zeitung

Streit um Reklame:Wie sexuell aufgeladen darf Werbung sein?

Nicht nur in München führen großflächige Werbeplakate wie am Marienplatz zu Debatten über Sexismus und Ästhetik. Manche Orte haben Reklame schon ganz verbannt.

Von Gerhard Matzig

Es ist das Jahr 1993. Das amerikanische Model Anna Nicole Smith bewirbt an Bushaltestellen in aller Welt zauberhafte, möglicherweise aber auch entzaubernde Dessous für das schwedische Textilunternehmen Hennes & Mauritz. Und zwar in einem ostentativen Räkel-Modus, der sich offenbar unmittelbar auf jene Areale männlicher Kleinhirne auswirkt, die für Koordination und Feinmotorik zuständig sind.

Vor etlichen Bushaltestellen kam es angesichts der "Nimm-mich"-Pose (Dagmar Rosenfeld) zu Auffahrunfällen. In Norwegen ordnete das Parlament sogar an, das "verkehrsgefährdende Objekt" aus dem Verkehr zu ziehen. Zehn Jahre später, 2003, sorgte Heidi Klum als H&M-Variante in ihrer Heimatstadt auf ihre Weise für die Vandalismus-Statistik Kölns: Die entsprechenden Bikini-Plakate waren begehrte Diebesbeute - fast 200 Schaukästen wurden aufgebrochen.

Verkehrsgefährdung und Vandalismus: Das sind ja wenigstens mal zwei richtig handfeste Themen in der sonst so nebulösen Pro-und-Contra-Debatte um die gelegentlich fragwürdigen Mittel sogenannter Außenwerbung. Darunter versteht man all die Poster, Plakate oder Banderolen, die uns im öffentlichen Raum der Stadt ihre diversen Werbebotschaften zuflüstern - oder, das scheint zunehmend der Fall zu sein, zubrüllen.

Übrigens ist solche Werbung, früher besser bekannt als "Reklame", kein rein modernes Phänomen: Schon vor 5000 Jahren dienten Hieroglyphen auf Obelisken als Wegweiser für Reisende. Zweieinhalb Jahrtausende später meißelten ägyptische Händler Verkaufsbotschaften in Steine, die an Straßen aufgestellt wurden. Die "Billboard"-Kulturgeschichte (englisch für Plakatwand) mag am Rande der Freeways von Las Vegas ihren Zenit erleben, doch ihre Wurzeln reichen tief in die Zivilisationsgeschichte der Städte als Keimzellen des Handels.

Die Geschichte der Stadt als Marktplatz ist überhaupt sehr eng mit der Entwicklung der Ökonomie verknüpft, weshalb auch die "Ökonomie der Aufmerksamkeit" (Georg Franck) starke Verbindungslinien zum öffentlichen Raum wie zur Werbung, zum Stadt- wie zum Wirtschaftsleben aufweist.

Neben der Verkehrsgefährdung und dem Vandalismus ist in der jüngeren Geschichte der Werbungs-Rezeption einmal auch das politische Interesse staatlicher Lenkung als Motiv aufgetaucht. Das war in Peking so, als im Vorfeld der Olympischen Sommerspiele 2008 riesige Werbeplakate abmontiert wurden, auf denen kapitalistische Güter angepriesen wurden. Den Kommunisten in Peking passte dieses Image, eine Nimm-mich-Pose völlig anderer Art, ganz und gar nicht.

Einer wiederum anders gearteten Imagepflege fühlte man sich vier Jahre später in Kiew verpflichtet, in der EM-Stadt 2012. Dort wurden zwar keine Werbeposter mit spärlich bekleideten Frauen, die sich in Dessous, Apartments oder Toaster verliebt haben, verboten, aber dafür untersagte die Stadtverwaltung während der Europameisterschaft ihren Bürgern, sich auf den Balkonen in Unterwäsche zu zeigen. Dessous hin, Feinripp her. Möglicherweise ist aber die gelegentliche Unterwäsche-Präsentation auf Balkonen in der Ukraine ein gesamtgesellschaftliches Kulturgut, weshalb die Stadt nun genau das Gegenteil erreichte: Mit entblößten Brüsten protestierten Kiewer Frauen gegen das Unterwäsche-Verbot. Die Bilder davon gingen um die Welt und zeigten, wie leicht sich mit ein bisschen politischer Unterstützung ein wenig Nacktheit in totale Peinlichkeit verwandeln lässt.

Leider kommt uns nun in München weder das norwegische Parlament noch die Stadtverwaltung von Kiew zu Hilfe. Und auch das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Chinas wird den Streit um das 114 Quadratmeter große Bikini-Plakat am Marienplatz nicht entscheiden wollen. Das ist bedauerlich, denn wenn die Motive Verkehrsgefährdung oder Staatsgefährdung ausscheiden, muss man sich auf ein - trotz Bikini - wesentlich unschärfer umrissenes Terrain begeben. Auf diesem Boden geht es um die Differenz von Sexismus und der Ökonomie der Aufmerksamkeit auf der einen Seite - und um Stadtästhetik auf der anderen Seite. Betroffen ist ein wahrlich schwieriges Gelände.

Tatsache ist, dass die Werbung zunehmend sexuell aufgeladen erscheint. Die schon immer flirrend erscheinenden Grenzen von Scham und Stil werden in immer kürzeren Abständen immer weiter verschoben. Einen allgemein anerkannten Konsens gibt es längst nicht mehr. Das musste auch die Umweltministerin Barbara Hendricks erfahren, deren Amt im Zuge des Klimaschutzes einen peinlichen Sex-Werbespot schalten ließ. Darin schleicht sich ein spät nach Hause kommendes junges Mädchen ins Haus, macht das Licht an und erblickt seine Eltern am, nicht auf dem Sofa. Die Mama vornübergebeugt mit Rock oben, der Papa dahinter mit Hose unten. Das Mädchen ist geschockt und macht das Licht klimafreundlich wieder aus. Oder der Fall Triberg. Das Schwarzwald-Kaff mit knapp 5000 Einwohnern blamierte sich mit einer großen Werbewand, die Touristen anlocken sollte. Darauf zu sehen: die Silhouette einer Frau auf dem Boden. Die Beine sind gespreizt. Ein Slogan verspricht dazu: "steile Berge, feuchte Täler". Triberg halt. Der Skandal war da.

Erst im April wurde bekannt, dass Heiko Maas als Justizminister sexistische Werbung verbieten lassen will. Plakate oder Anzeigen, die Frauen oder Männer auf Sexualobjekte reduzieren und so einem "modernen Geschlechterbild" im Wege stehen, soll es demnach schon bald nicht mehr geben. Aber was genau ist sexistisch? Und ab wann wird man zum Sexualobjekt degradiert?

Die Debatte darüber wird auch anderswo geführt. Der erst Anfang Mai ins Amt gewählte Londoner Bürgermeister Sadiq Aman Khan verkündete vor ein paar Tagen, dass ab Juli sexualisierte Werbung auf Londoner U-Bahnhöfen nicht mehr geduldet werde. Khan kämpft gegen das "body-shaming". Niemand solle in der Öffentlichkeit unter Druck gesetzt werden - wegen unrealistischer Ansprüche an den eigenen Körper. Khan sagt, er sei "als Vater zweier Töchter extrem betroffen über diese Art von Werbung, die Menschen erniedrigt". Übrigens: Es gibt - viel seltener - auch männliche Models, die nackte Haut und allzu viel perfekte Anatomie zeigen. David Beckham, sein Sixpack und die Armani-Unterhosen wissen das.

Schwierig ist auch die Frage nach der Ästhetik abseits der Sexismusdebatte zu beantworten. Tatsache ist zunächst einmal: Die Außenwerbung nimmt, während andere Werbeformen eher schrumpfen, seit 2001 beständig zu in Deutschland. Denn die Menschen sind dank zunehmender Digitalisierung auch immer mobiler. Paradoxerweise nährt das Digitale so eine analoge Werbetechnik: Die Litfaßsäule stammt aus dem 19. Jahrhundert und erfreut sich steter Beliebtheit.

Außenwerbung boomt, es ist ein Milliarden-Business. Entsprechend werden die Werbeträger präsenter im Stadtbild. Immer größer zudem auch im Einzelfall, weil die sogenannten Riesenposter so erfolgreich sind in der Aufmerksamkeitsökonomie, in der auch gilt: size matters. Der 114-Quadratmeter-Bikini von München, der dennoch nur sehr wenig Textiles bietet, ist also kein Einzelfall. Auf der Homepage von total-plakat.de heißt es: "alle Größen & Formate sind realisierbar". Es liest sich wie eine Drohung.

Da kommt noch einiges zu auf die Städte, von denen sich einige bereits wehren gegen die Bilderflut, die ja nicht nur aus Haut und Bikinis besteht - sondern vor allem aus einer konsumistischen Grundhaltung: Nimm mich! Grenoble hat deshalb schon im Jahr 2014 die 326 vorhandenen "Großflächen" abbauen lassen. Auch 64 Billboards wurden aus dem Stadtbild verbannt. Noch früher ist São Paulo als erste Metropole der Welt gegen die omnipräsenten Werbeplakate vorgegangen. Vor sechs Jahren wurde jede Werbung im Stadtgebiet verboten. Doch über die Folgen (das strikte Verbot wurde längst wieder etwas aufgeweicht) herrscht bis heute keine Einigkeit. Ein Architekt sagt: "Vorher war die Stadt verwirrend und hässlich, jetzt ist sie nur noch hässlich."

Wäre denn der Times Square in New York City, einer der Kronzeugen der Werbegeschichte, denkbar ohne das elektropolishafte Geflacker und Geflimmer seiner stets falschen, also herrlichen Versprechungen? Andererseits: Gerade die Riesenplakate greifen in das Stadtbild ein. Sie verändern, viel drastischer, als dies missglückte Fassaden oder unschöne Baugerüste je könnten, die Qualität der Stadt. Meist beschädigen sie diese Qualität - wenn auch nur temporär. Doch: Nach der Werbung ist ja immer auch vor der Werbung.

Die Städte sollten sich von diesem Auswuchs befreien. Das zielt aber nicht nur auf den Bikini. Auch ein "süßes" Katzenbild, 114 Quadratmeter groß, verschandelt die Stadt. Städte wurden einst bereichert durch die Embleme der Verheißungen. Mittlerweile droht jedoch eher die Verarmung. Irgendwann hat man auch das Gefühl, man habe nun genug Bikinis für ein sehr langes Leben gesehen. Es geht nicht um weniger Werbung, es geht um mehr Stadtbild und mehr Werbequalität, die keine Werbequal sein darf.

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SZ vom 22.06.2016/axi/infu
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