Stream-Kritik:Zurück ins Bewusstsein

"Schicksale" erzählt von Mitarbeitern der Kammerspiele in der NS-Zeit

Von Christiane Lutz

Sybille Schloß. Edgar Weil. Hans Tintner. Benno Bing. Julius Seger. Emmy Rowohlt. Sechs Namen, die kaum jemand mehr erinnert. Es sind Namen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Münchner Kammerspiele, die durch die Nationalsozialisten bedroht, verfolgt und ermordet wurden. Benno Bing, ehemaliger Geschäftsführer der Kammerspiele, Dramaturg, starb im KZ Auschwitz, Edgar Weil in Mauthausen. Emmy Rowolt, Schauspielerin, stirbt völlig abgemagert im Hungerhaus in Eglfing-Haar.

Ihre und ein paar weitere Geschichten lesen die Schauspieler Julia Windischbauer, Samouil Stoyanov und Zeynep Bozbay über einen Livestream vor, aus ihren Wohnzimmern. Die Geschichten sind stellvertretend für eine weit größere Zahl von Mitarbeitern, deren Leben nach Hitlers Machtergreifung 1933 bedroht war. Für das Rechercheprojekt "Schicksale" wollen die Kammerspiele die Geschichten all dieser Menschen aufspüren und erzählen, um ihnen so ein Gesicht zu geben. Das Projekt geht auf die Initiative von Janne und Klaus Weinzierl zurück, ein Paar, das sich aktiv gegen Rechts und für Stolpersteine in München einsetzt.

Gemeinsam mit Dramaturg Martin Valdés-Stauber entstand eine erste Lesung vergangenen November, die Recherche aber dauert an. Wurden im November noch 50 Namen der betroffenen Mitarbeiter verlesen, wissen die Kammerspiele inzwischen von mehr als 130 Schicksalen, denen sie mit dem Ehepaar Weinzierl nachgehen. Die Stadt München habe sich bis dato nicht wirklich darum gekümmert, diese Schicksale aufzudecken, beklagt das Paar, das ebenfalls per Video zugeschaltet ist. Auch in den Büchern über die Kammerspiele hätten sie wenig bis keine Erwähnung gefunden. In Otto Falckenbergs Biografie von 1944 scheint es gar, als gäbe es die NS-Zeit gar nicht. Die Kammerspiele aber spielten damals eine wichtige Rolle. Hitler ernannte sie zur Bühne der "Hauptstadt der Bewegung" und ordnete Förderung an.

"Schicksale" soll Teil der Erinnerungskultur werden, heißt es. Erinnerungskultur, das bedeutet ein Bewusstmachen von Vergangenem und Gegenwärtigem und der daraus resultierenden Verantwortung. Gerade, wenn kollektives Erinnern immer weniger möglich ist, weil viele junge Menschen das Erinnern an die NS-Zeit nicht mehr aus ihren Familienbiografien herleiten können. Stoyanov etwa, in Bulgarien geboren, ist mit einem völlig anderen Bild von Hitler aufgewachsen, als die Österreicherin Julia Windischbauer. Großeltern befragen ist für immer mehr Menschen keine Möglichkeit mehr.

Die Geschichten dieser Menschen zu hören, von ihren Familie entzweit, gequält und umgebracht, macht einen in diesen frustrierenden Zuhause-Tagen wieder demütig. Es ist ein Projekt von großer Wichtigkeit für München, für die Theaterwelt und überhaupt. So wichtig, dass seine Darreichungsform, ob auf der Bühne oder im wackligen Stream, in dem Fall vollkommen zweitrangig ist.

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