Süddeutsche Zeitung

Stream-Kritik:Kranke Esel

Die Tragik eines Karnevals, dem niemand beiwohnt

Von Rita Argauer

Der Karneval der Tiere wurde als humoristischer Faschingsschwank komponiert. Dementsprechend musikalisch lustige Späße hat Saint-Saëns da hineingeschrieben: Schildkröten, die in Zeitlupe Offenbachs Can-Can tanzen, Fossilien, die auf ihren Knochen Xylophon spielen oder Kuckucke, die ihre Terzen auf einen melancholischen Choral rufen. Wenn nun Musiker des Gärtnerplatzorchesters den Programmmusik-Klassiker als Jugendstück im Stream mit den Texten von Loriot aufführen, bekommt das heutzutage noch eine ganz andere Absurdität: 4791 seltsam kostümierte Tiere seien zu einem kulturellen Ereignis von "erregender Einmaligkeit angereist", fabuliert Loriot. Oh ja, solche Massenereignisse sind nach einem Virus-Jahr in ebenso absurde Ferne gerückt wie das Pariser Schildkrötenballett.

So erlaubt sich das Gärtnerplatztheater auch nur noch müde Scherze: Hinter einem Haufen Kuschel- und Modelltiere spielt das schlank besetzte Ensemble. Ein Schild teilt mit: Der Esel ist in Quarantäne. Huch ja, ein als Esel verkleideter Tiger ist der Ersatzesel (ebenfalls per Schild ausgezeichnet). Und Sprecher Erwin Windegger nimmt zu Beginn seinen aufgesetzten Eselkopf auch gleich ab und präsentiert prächtig selbstbewusst Loriots kunstvollen Text, der sowohl den Karneval feiernden Tieren gerecht wird als auch das menschliche Publikum konventioneller kultureller Veranstaltungen aufs Korn nimmt. Tja, all das gab es einmal. "Und wann kommt endlich der Schwan", fragen die Katzenkinder, die das melancholische Pathos des Schlussstücks kaum erwarten können.

Unter der Leitung von Oleg Ptashnikov, der auch eines der zwei Klaviere spielt (am zweiten: Anke Schwabe), beginnt der Löwe majestätisch langsam, folgen die Hühner flirrend schnell, gibt es zu den chromatischen Versponnenheiten des Aquariums Kirmes-Fisch-Luftballons im leeren Zuschauerraum. Ja, das ist ein ergreifend tragisches Bild für diese lustige Musik, die nun unter solch einsamen Umständen erklingen muss.

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Quelle:
SZ vom 22.04.2021
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