Süddeutsche Zeitung

Stream-Kritik:Der feine Unterschied

Alice Schwarzer bei der Münchner Bücherschau

Von Yvonne Poppek

Alice Schwarzer hat darauf keine Antwort. Was sie vom materialistischen Feminismus hält, ist die Frage. Schwarzer zieht kurz die Augenbrauen zusammen. "Materialistischer Feminismus, was ist denn das jetzt?", entgegnet sie. Linda Becker weiß das auch nicht. Die Moderatorin des im Livestream übertragenen Gesprächs auf der Münchner Bücherschau hat die Frage aus dem Chat aufgenommen, die Schwarzer so offen und selbstbewusst retourniert. Als Galionsfigur des Feminismus müsse sie das wissen, scherzt Becker. Als solche weiß Schwarzer auch zu agieren und derartige Fragen zu nehmen: Sie hält sich nicht lange mit Begrifflichkeiten auf, sondern kümmert sich um Kernbotschaften. Etwa solche: "Lasst uns einfach gemeinsam Menschen sein und gucken, dass wir den ganzen Müll, der über uns immer ausgekippt wird, und die ganzen Zwänge, dass wir das auf die Seite räumen."

Die 77-jährige Schwarzer ist vermutlich nicht nur im Feminismus eine Galionsfigur, sondern auch in der Debattenführung. Die Fernsehdiskussion mit der Antifeministin Esther Vilar machte sie 1975 zur öffentlichen Figur, dann erschien ihr Buch "Der kleine Unterschied und seine großen Folgen". Die Reihe ihrer Veröffentlichungen ist kürzlich um den zweiten Teil ihrer Autobiografie mit dem Titel "Lebenswerk" angewachsen. Darin setzt sie sich mit den 45 Jahren auseinander, in denen sie unermüdlich als "Humanistin, Pazifistin und Feministin" kämpfte und kämpft.

Keine Frage: Das Online-Podium ist für Alice Schwarzer zu klein. Dennoch lässt sie sich wortgewandt, ja charmant auf die Moderatorin ein, die mit Feminismus nicht fremdelt. Affirmativ begleitet sie Schwarzer durch Themen wie Abtreibung, Prostitution, Recht und Gerechtigkeit. Diese Felder scheinen lange beackert, trotzdem durchpflügt Schwarzer sie mit großer Energie. Etwa wenn sie Prostitution als "humanitären Skandal erster Ordnung" bezeichnet oder sich empört, dass man beim Thema Abtreibung immer noch auf der Stelle trete. Schwarzer argumentiert scharf, hält sich nicht mit Nebensächlichem auf - für ein online geführtes Gespräch sind das wertvolle Güter.

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Quelle:
SZ vom 20.11.2020
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