Münchner Momente:Leben und kleben lassen

Anders als Berlin lässt München Verkehrsaktivisten gewähren, wenn sie die Wege blockieren. Polizei und Rathaus haben sich auf das Bündnis für maximale Toleranz verständigt.

Glosse von Bernd Kastner

In der Hauptstadt liegen die Nerven blank. Seit Tagen blockieren Klimaaktivisten in Berlin große Straßen. Sie kämpfen gegen Lebensmittelvernichtung und damit für Klimaschutz. Dafür kleben sie gar ihre Hände auf den Asphalt. Einmal haben Männer der Stadtreinigung die Blockierenden von der Kreuzung gezerrt. Was für Zustände!

In der anderen Hauptstadt nimmt man das Treiben von Verkehrsaktivisten gelassen, ganz nach dem in München erprobten Motto: Leben und kleben lassen. Dabei brauchen die Münchner gar keinen Sekundenkleber für ihre Blockaden. Sie sind so gewichtig, sie stellen sich einfach hin. Man will sie auch gar nicht weghaben, nicht in der Einsteinstraße, nicht in der Schellingstraße, nirgends. Also blockieren sie immer weiter, keine Ministerin regt sich auf. Die bayerischen Aktivisten kämpfen nicht für Lebensmittel, München hat schließlich genug Essen zum Wegwerfen, sondern um ihr bedrohtes Asphaltbiotop.

Entsprechend liebevoll reagiert die Stadt. Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr? Ach was! Bloß nicht zu hart anfassen. Ein Autofahrender darf auf Radwegen und auf Gehwegen parken, auf Fußgängerfurten und Schulwegen. Das blockiert zwar Senioren und Menschen im Rollstuhl, aber ein kleiner Umweg bringt Bewegung und ist gesund. Das bringt zwar Kinder in Gefahr, aber die müssen lernen aufzupassen. Es geht um viel für die Aktivisten. Durch die Pop-up-Mode sind vorletztes Jahr mehrere Quadratmeter Autoasphalt abmarkiert worden, für Radwege. Sie wollen ihren Raum zurückerobern.

Die politische Reaktion ist zwischen Stadt und Polizeipräsidium abgestimmt, im Münchner Bündnis für maximale Toleranz. Im Rathaus denken die aufgeblühten Grünen schon an die nächste Wahl. In der Schicht der sozial schwachen Bürgerinnen und Bürger, deren Boni in Pandemiezeiten kaum für einen 300-PS-BMW reichen, müssen sie Stimmen gewinnen, um irgendwann in Berlin den Verkehrsminister stellen zu dürfen.

Die Polizei wiederum wäre völlig überfordert, wollte sie die Straßenverkehrsordnung gegen die automobilen Aktivisten konsequent durchsetzen. Alle kundigen Kräfte sind damit beschäftigt, sich aufs Jahr 2023 vorzubereiten. Da findet die nächste Kfz-Messe in München statt, dann werden wieder diese Autogegner anreisen und an die Erderhitzung erinnern. Noch mal darf die IAA nicht gestört werden, also rüstet sich die Polizei und späht jetzt schon den Standort des nächsten Protestcamps aus. Es gilt, das andere Klima zu schützen, das zwischen Politik und Industrie.

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