Sterbebegleitung:Plötzlich allein - was nun?

Sterbebegleitung: Der 93-jährige Georg Hellwig lebt nun alleine in seiner Wohnung in Giesing.

Der 93-jährige Georg Hellwig lebt nun alleine in seiner Wohnung in Giesing.

(Foto: Robert Haas)

Georg Hellwigs Frau stirbt, nach 65 Jahren Ehe. Wie er es schafft, die Einsamkeit zu besiegen.

Von Anna Hoben

Am schlimmsten ist es abends, wenn er ins Bett geht. Und morgens nach dem Aufwachen. Er geht in die Küche und macht Kaffee, und dann sitzt er da, in seinem Kopf nur ein Gedanke: Wo ist die Uschi? Georg Hellwigs Stimme verschwindet fast, als er davon erzählt. Vor 65 Jahren hat er die Uschi kennengelernt, ein Jahr später heirateten sie. In ihrer Wohnung in Giesing, wo der 93-Jährige noch heute lebt, zogen sie zwei Söhne groß. Sie sind immer zusammengeblieben. Bis zum 15. Mai dieses Jahres. Da ist Ursula Hellwig gestorben. Seitdem ist er allein.

Georg Hellwig sitzt am runden Tisch in seinem Wohnzimmer und streicht sich immer wieder mit der einen Hand über die andere. Margit Kreibe und Albrecht Dehmel vom Hospizdienst "Dasein" sind noch einmal gekommen. Den beiden - sie ist Krankenschwester und Palliative-Care-Fachkraft, er ist ehrenamtlicher Hospizbegleiter - hat er es zu verdanken, dass er trotz allem nie ganz allein gewesen ist. Nicht während jener zwei Monate, als seine Frau im Sterben lag. Und nicht danach.

Es war Silvester, als sie sich das erste Mal trafen. Beide waren bei einem gemeinsamen Bekannten eingeladen, "wir brauchen Mädchen", hatte der Gastgeber bei der Einladung gesagt, und da hatte die Freundin eines Freundes die Ursula mitgebracht. "Wir waren uns sehr sympathisch", sagt Georg Hellwig, aus der Sympathie wurde mehr, er verliebte sich in sie, in ihre Schönheit und ihr Wesen, zuverlässig war sie, das war ihm wichtig. Am Anfang hielten sie noch Abstand, "wir haben nicht gleich gebusselt". Es waren andere Zeiten, man siezte einander beim Kennenlernen. Doch dass daraus etwas werden würde, etwas, das lange anhalten würde, das war den beiden ziemlich schnell klar.

Georg Hellwig studierte damals Chemie an der Technischen Hochschule, Ursula, die ein halbes Jahr älter war als er, arbeitete als Kindergärtnerin. Um mit ihr an der Isar spazieren gehen zu können, schwänzte er Vorlesungen, "was die Professoren erzählten, konnte ich ja am nächsten Tag nachlesen". Bald allerdings musste er sein Studium abbrechen, weil er es sich finanziell nicht mehr leisten konnte. "Ich habe dann diese blöde Buchhalterei gelernt, dieses kaufmännische Geraffel. Das lag mir nicht, aber man musste ja was tun." Am 20. Juni 1953 feierten sie Hochzeit.

Nie hätte Georg Hellwig gedacht, dass sie vor ihm sterben würde. "Ich hatte zig Operationen und lebe, sie war eine starke, lebensbejahende Frau, und sie stirbt." Er weiß nicht mehr genau, wann sie angefangen hatte, die Sache mit ihren Bauchschmerzen. Aber zum Arzt gehen? Das wollte sie nicht. Bis die Schmerzen zu stark wurden. Im März 2016 wurde die 93-Jährige ins Krankenhaus eingeliefert. Bei der Entlassung rieten die Ärzte vom Operieren ab - der Krebs hatte Leber, Darm und Lymphknoten befallen.

Eine Sprechstundenhelferin der Hausärztin erzählte dem Paar vom Hospizdienst "Dasein". Margit Kreibe kam in die Wohnung, um mit den beiden darüber zu sprechen, wie Ursula Hellwig die letzte Lebensphase so gut wie möglich zu Hause verbringen können würde. Sie kümmerte sich um Pflegehilfsmittel und organisierte einen Pflegedienst. Als die Symptome schlimmer wurden, wurde Ursula Hellwig in die spezialisierte ambulante Palliativversorgung aufgenommen. Die Ärzte von "Dasein" sind für solche Patienten rund um die Uhr erreichbar.

Margit Kreibe brachte das Ehepaar auch mit Albrecht Dehmel zusammen. "Ich dachte sofort, dass das gut passen würde." Es passte. Vor vier Jahren ist der heute 59-jährige in Rente gegangen und hat sich zum ehrenamtlichen Hospizbegleiter ausbilden lassen. Ein Dutzend sterbende Menschen hat er seitdem begleitet. "Es entwickeln sich über kurze Zeit ganz intensive Beziehungen", sagt er. Manchmal auch bleibende mit den Angehörigen, so wie mit Georg Hellwig. Zuhören, egal ob es um Glaubensfragen geht oder um profane Alltagsdinge, erspüren, was für Wünsche da sind, und auch mal gemeinsam schweigen können - das sei das Wichtigste, sagt er. Kurzum: Zeit haben. Jenes Gut schenken, das so knapp ist in unserer Gesellschaft.

Jetzt herrscht Stille in der Wohnung

Ärzte, sagt Dehmel, schicken ihre Patienten weg mit den Worten, sie könnten nichts mehr für sie tun. "Dabei kann die Palliativversorgung so vieles tun, um die Lebensqualität am Ende zu verbessern." Das findet auch Margit Kreibe. Als Krankenschwester hat sie unter anderem auf Intensivstationen viele Menschen sterben sehen. Irgendwann war die Arbeit im Krankenhaus nichts mehr für sie. "Es gibt dort keine Sterbekultur." Schon nach ihrem Examen in Österreich hatte sie mit Anfang 20 eine Ausbildung zur Sterbebegleiterin gemacht, "aber damals fand ich das bedrückend, ich war zu jung. Jetzt hat sich der Kreis geschlossen". Seit 2009 arbeitet sie beim Hospizdienst "Dasein", der seinen Sitz in der Karlstraße unweit vom Hauptbahnhof hat und in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen feiert.

Am 15. Mai 2016 ging Georg Hellwig wie jeden Morgen nach dem Aufwachen in die Küche, kochte Tee, machte seiner Ursula ein Brot und schnitt es klein. Er ging an ihr Bett und nahm ihre Hand. "So, Uschi, jetzt geht's zum Frühstück." Sie reagierte nicht. Er fragte, ob er ihr Polster höher legen sollte; sie schüttelte den Kopf. Er hielt sie im Arm, streichelte sie. Ein seufzendes Geräusch, ein Ausatmen, dann kein Laut mehr. Es war 7.45 Uhr.

Das Leben ist viel zu kurz

"Sie hat nie Angst vor dem Sterben gehabt", sagt Georg Hellwig. Er hat auch keine Angst. Manchmal denkt er nach dem Aufstehen: Mensch Georg, was machst du noch hier? Was hast du hier zu suchen? Das sind die dunklen Momente. Es gibt aber auch die hellen, energiegeladenen, in denen der 93-Jährige plötzlich wie 75 wirkt, so wie jetzt hier am Wohnzimmertisch mit Albrecht Dehmel und Margit Kreibe. "Das Leben ist viel zu kurz", sagt er, "es gäbe noch so viel zu tun". Er wollte immer nach Ägypten. Und er würde so gern, "bitte nicht lachen", schickt er voraus, er würde so gern sein Chemiestudium fortsetzen, das er vor sieben Jahrzehnten abbrechen musste. Der Kopf würde vielleicht sogar noch mitmachen. Wenn nur die Beine besser funktionierten.

Stattdessen blättert er jetzt immer wieder mal in Uschis Büchern, die er früher nie aufgeschlagen hat. Bücher über ihre Heimat Königsberg, die sie nie wieder besuchen wollte, als sie in München lebte, über die sie in ihren letzten Wochen aber immerzu reden wollte, über ihre Heimat, ihre Kindheit und ihre Eltern. Und außer Büchern, was bleibt? Erinnerungen. Ausflüge nach Garmisch und Bad Tölz, zum Schlittschuhlaufen, sie war ein gute Läuferin, er wartete im Auto, und wenn es richtig kalt wurde, stand er auf und holte einen Schnaps.

Ihre Lieblingsblumen, sie liebte Rosen und Alpenveilchen, von Blumen auf dem Friedhof hält Georg Hellwig nicht viel, "Blumen soll man zu Lebzeiten schenken", sagt er, und das tat er, er brachte seiner Uschi oft Blumen mit. Spaziergänge, auch als die Beine nicht mehr so wollten wie mit Anfang 20, sie sagte immer: "Georg, jetzt komm." Opern- und Konzertbesuche, zu Hause sang sie selber alles nochmal, bis er sagte "jetzt hör auf mit der Singerei". Heute singt niemand mehr in der Wohnung am Alpenplatz, es ist jetzt immer still.

Gleich wird Georg Hellwig mit Albrecht Dehmel eine Pizza essen gehen. Vielleicht nimmt er auch nur einen Salat. "Ich esse so gern Grünes", sagt er, und beim Essen auf Rädern gibt es nur Nachtisch, aber nichts Grünes. Margit Kreibe hat ihm Rezepte gegeben für Salate, aber so richtig kann er sich mit der Küchenarbeit nicht anfreunden. Sie werden also zum Italiener gehen, und dann, am Nachmittag, wird er ein Konzert besuchen, Schnulzen werde es da geben, sagt er, die höre er gern. Dann sagt er: "Nein, ich hör' sie nicht gern, aber sie erinnern mich an eine Zeit, als ich jünger war."

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