"Ich bin noch da!", singt Stefan Noelle auf seinem neuen Album "Wie es mich zieht". Es ist vielleicht der poetischste aller bislang erschienenen Corona-Songs aus Künstlersicht, mit der richtigen Portion Pathos, aber auch voller Hoffnung. Eines von 13 Stücken, bei denen man sich kaum entscheiden kann, welches besser ist als das andere, so gut sind sie alle. Schon als Noelle 2016 sein Chanson-Debüt "Meinetwegen im Regen" vorlegte, war das mehr als eine Talentprobe. Man konnte hören, dass da jemand seine Bestimmung gefunden hatte, als "Spätzünder", wie er selbst sagt. Mit "Wie es mich zieht" hat er nun endgültig seine Meisterprüfung abgelegt.
Ein Meisterstück ist das Album schon wegen seiner rein physischen Opulenz. Nicht nur die (noch die Herstellungswarteschleife drehende) Vinyl-Version, sondern auch die CD steckt in einem Fotoband im LP-Format. Alle Texte und viele Infos finden sich darin, vor allem aber ließ Noelle die Aufnahmen im Unterföhringer Mastermix-Studio von der einst in München, jetzt in Köln lebenden Musikfotografin Lena Semmelroggen dokumentieren, die zu den Besten ihres Fachs gehört. So erzählen fast 50 Schwarz-Weiß-Aufnahmen in einer Art entidealisiertem William-Claxton-Stil die Geschichte der Entstehung eines Werkes. Und ergeben zugleich ein kleines Bilderbuch der Münchner Musikerszene.
Denn Stefan Noelle versammelte mehr als 35 Kollegen, Freunde und Weggefährten im Studio. Vom 73-jährigen E-Bass-Altmeister Wolfgang Schmid (der sich in den Song "Die vorletzte Waschmaschine meines Lebens" vielleicht besonders gut hineinversetzen konnte), dem Dreiviertelblut-Mastermind und Filmmusik-Professor Gerd Baumann oder den Sängerinnen Vera Klima oder Andrea Hermenau über junge Jazzer wie Flurin Mück oder Sam Hylton bis zum Saxofon/Lauten-Duo Hugo Siegmeth und Axel Wolf oder der kompletten Quadro Nuevo-Besetzung. Bei "Der Schnee" stand sogar ein ganzes Orchester mit Streicher-Quintett im Aufnahmeraum. "Sie alle haben jedem meiner Lieder etwas Besonderes gegeben", sagt Noelle. Wie sehr das stimmt, hört man zum Beispiel beim "Eichhörnchen", wo die Oud des Jisr-Mitglieds Abathar Kmash das Couplet-artige Stück orientalisch völlig gegen den Strich bürstet. "Die Sessions - immer alle zusammen im selben Raum - waren von sehr viel Freude und großer gegenseitiger Wertschätzung geprägt. So ist dieses Album auch eine Hommage an das Umfeld, das mich trägt."
Dass dieses Umfeld so groß, bunt und breit aufgefächert ist, kommt nicht von ungefähr. Noelle blickt nicht nur ein 20-jähriges Musiker-Vorleben zurück, bevor er anfing, Chansons zu schreiben, er ist auch ein Mann der vielen Gesichter: Als gelernter Jazzdrummer war er ein gefragter Sideman der Szene, was er noch heute als Einspringer wie als mitspielender Gastgeber seiner Reihe "Be My Guest" am Ackermannbogen und im Spagat pflegt; außerdem ist er ein Spezialist für die arabische Rahmentrommel, was ihn auch für Weltmusiker interessant machte; den großen Bogen bis hin zu Klassik und Pop spannte er im Theatergraben oder im unverwüstlichen Kult-Duo "Unsere Lieblinge".
Und so ist dieses Album kein Ausdruck von Sturm und Drang, sondern von vollendeter Reife. In Noelles Liedern paart sich außergewöhnliche Beobachtungsgabe mit wachem Geist, zuzüglich einem breiten, aber sicheren Geschmack und der Liebe zur Sprache und Poesie. Und mit einer Lebenserfahrung, ohne die man wohl nicht beim Gedanken an die eigene Sterblichkeit auf einen Song wie "Die Ewigkeit lügt" käme. Oder angesichts der Verschiedenheit der Menschen auf den grandiosen gemeinsamen Nenner: "Im Betrachten eines Eichhörnchen sind wir alle gleich." Ohnehin durchzieht eine nostalgische Ader ("Damals auf dem Dorf" ist das beste Beispiel) und eine sanfte Melancholie ("Septemberwespen") das Album, aber immer aufgefangen durch Humor und Tiefgang. Es kann sogar in bester Liedermacher-Tradition politisch werden, mit dem Song "Muss ich jetzt was sagen?" etwa, mit dem er dem rechten Pack eine andere Art von Deutsch-Sein entgegen schleudert.
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Schließlich kommt noch die Liebe zur Heimatstadt München dazu, eingefangen in zwei "Bonustracks": In "Die Trümmer dieser Stadt" lässt Noelle auf seine eigene, nachdenkliche Weise die düstere Geschichte Revue passieren, die im aus dem Kriegsschutt aufgetürmten Olympiaberg wenige Meter unter den Füßen der Flaneure begraben liegt. Und eine echte Stadthymne ist die "Warme Nacht in München", der einzige Song, der nicht im Studio aufgenommen wurde, sondern mit der Familienband der Himpsls in deren Unterbiberger Garten. Sodass auch dieses Stück vom Arrangement und den Farben her völlig anders klingt als die anderen.
Ein Aufwand, den Noelle sich trotz oder gerade wegen Corona in den Kopf gesetzt hatte und für den er - von Crowdfunding mäßig gemildert - manche Ersparnisse einsetzte. Alle Facetten des Albums wird man auf der Bühne natürlich nicht zu sehen bekommen - am ehesten noch bei der Präsentation am 27. September im Lustspielhaus, wenn Noelle neben seiner Band auch zahlreiche Überraschungsgäste erwartet.
Stefan Noelle: "Wie es mich zieht", Elefant Elson, Selbstvertrieb ; Präsentation am Di., 27. Sept., 20 Uhr, Lustspielhaus, Occamstraße 8