Zeitgeschichte:Heimliche Priesterweihe

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Als einziger Gefangener wird Karl Leisner im KZ Dachau ordiniert. Er kann nur eine Messe feiern. Am 12. August 1945, vor genau 75 Jahren, stirbt er im Waldsanatorium Krailling

Von Thomas Balbierer, Krailling/Dachau

Am Morgen des 9. November 1939 geht alles ganz schnell. Karl Leisner, Tuberkulosepatient im Lungensanatorium St. Blasien, wird gegen 9.30 Uhr von zwei Polizisten der Gestapo aus seinem Zimmer geholt, verhört und eine halbe Stunde später verhaftet. Kurz zuvor hat Leisner am Morgengebet teilgenommen und auf seinem Zimmer gefrühstückt. Er trägt noch die Soutane, als die Polizei kommt. Sie wirft Leisner, einem 24-jährigen katholischen Diakon, staatsfeindliche Äußerungen vor. Er soll das am Vortag gescheiterte Bombenattentat von Georg Elser auf Adolf Hitler gegenüber einem Mitpatienten mit Bedauern kommentiert haben: "Schade, dass er nicht dabei gewesen ist." Hitler hatte den Münchner Bürgerbräukeller noch vor der Explosion verlassen. Leisner wird am selben Morgen von einem anderen Patienten denunziert und verhaftet, im Verhör streitet er die Aussage nicht ab. Wie Hans-Karl Seeger und Gabriele Latzel in ihrer Leisner-Chronik dokumentieren, wird der kranke Diakon in ein Gefängnis nach Freiburg gebracht, wo er um 18.30 Uhr eintrifft. Hier beginnt sein Weg ins Konzentrationslager Dachau.

Ausgerechnet in Freiburg, der Stadt, in der sich Leisner als Theologiestudent einst so heftig verliebte, dass er in eine tiefe Sinnkrise fiel, an deren Ende er sich gegen die Liebe und für sein Lebensziel, das Priesteramt, entschied - ausgerechnet hier gerät er in die unbarmherzige Maschinerie des faschistischen Bestrafungsapparats. Vom großen Traum der Priesterweihe ist Leisner nach seiner Verhaftung so weit entfernt wie nie zuvor. Eigentlich hätte er zu dem Zeitpunkt bereits geweiht sein sollen, doch ihm kam die Tuberkulose in die Quere, die er sich bei einem Einsatz im Reichsarbeitsdienst zugezogen hatte. Und jetzt auch noch die Gestapo. In Briefen an die Familie gibt sich Leisner noch zuversichtlich, die Sache würde sich bald klären. Tatsächlich sollte sich sein größter Wunsch erst wenige Monate vor seinem Tod erfüllen.

Als einziger Häftling wurde Karl Leisner in einem Konzentrationslager zum Priester geweiht. Vor genau 75 Jahren, am 12. August 1945, starb er an den Folgen seiner schweren Krankheit. Er konnte nur eine einzige Messe zelebrieren, dennoch gilt er vielen Katholiken noch heute als Vorbild, das sich aus innerer Überzeugung gegen die Naziherrschaft stemmte und selbst in der dunkelsten Stunde seine Fröhlichkeit und Glaubenskraft bewahrte. 1996 wurde er von Papst Johannes Paul II. in Berlin selig gesprochen. Leisner habe "frühzeitig den antichristlichen Charakter" der NSDAP erkannt und "fühlte sich berufen, durch den angestrebten Dienst als Priester den Menschen den Weg Gottes zu lehren und keine Zugeständnisse an die sogenannte 'völkische Weltanschauung' zu machen", erklärte der Papst damals.

In Dachau hält der Verein "Selige Märtyrer von Dachau" die Erinnerung an den jungen Katholiken wach. Die Vorsitzende, Monika Neudert, gibt immer wieder Vorträge über das Leben und Wirken des Mannes, zuletzt am Sonntag in der Kapelle an der KZ-Gedenkstätte. Sie zeichnet das Bild eines jungenhaften Mannes mit offener Ausstrahlung und "ansteckender Fröhlichkeit", der sich vor seiner Haft vor allem um die Jugend bemühte und gerade deshalb von den Nazis als Gefahr gesehen wurde. Denn seine Ablehnung der NS-Ideologie stand früh fest. Kurz nach Hitlers Machtübernahme im Januar 1933, als viele Deutsche den neuen Mann an der Spitze begeistert bejubelten, schrieb er in sein Tagebuch: "Den Drill, die Schnauzerei, die Lieblosigkeit gegen die Gegner, ihre fanatische, tamtamschlagende Nationalitätsbesessenheit kann ich nicht teilen." Am 14. Dezember 1940, mehr als ein Jahr nach seiner Verhaftung, kommt Leisner nach einem kurzen Aufenthalt im KZ Sachsenhausen nach Dachau, Häftlingsnummer 22356. Dort liegt er wegen seiner Lungenerkrankung die meiste Zeit im Krankenlager. Doch statt sich verzweifelt seinem Schicksal hinzugeben, betätigt er sich als Seelsorger und Freund, sagt Neudert. Er unterhält die anderen Kranken mit einer hereingeschmuggelten Gitarre, spielt mit ihnen Karten und zelebriert das Abendmahl. Eine kleine Blechdose, in der er die Hostien aufbewahrt, versteckt Leisner unter seinem Kopfkissen. "Er hat immer Zuversicht ausgestrahlt", sagt Monika Neudert. Unter seinen Mitgefangenen ist der junge Theologe sehr beliebt, sie staunen über dessen Frohmut, bestärken ihn in seinem Priesterwunsch und teilen ihr Essen mit ihm, wenn er von seiner Krankheit stark geschwächt ist. Selbst in Leisners KZ-Krankenakte vermerken die Nazis seine "Positivität". Der ebenfalls in Dachau inhaftierte Priester Hermann Scheipers erinnert sich später an den umgänglichen Mann: "Karl machte auf mich einen tiefen Eindruck wegen seines frohen Wesens und seiner natürlichen Frömmigkeit. Er freute sich wie ein Kind über alle Zeichen der Liebe und Sorge Gottes, die wir in unserer Gefangenschaft zu spüren bekamen." Monika Neudert sagt, die Zeit im KZ erlebte Leisner wie ein "großes Abenteuer, was nicht heißt, dass er den Ernst der Lage nicht erkannte". Als Anhänger der Schönstattbewegung schöpft er Kraft aus der Marienverehrung.

Doch Leisner kämpft auch mit tiefen Zweifeln, leidet unter Depressionen, wie Neudert sagt. Seinem großen Ziel, Priester zu werden, hat er schon immer alles untergeordnet - auch die Liebe, die ihn bei einem Gastsemester in Freiburg 1937 erfasst. Damals verfällt er der jungen Elisabeth Ruby, schwärmt im Tagebuch von "unaussprechlichem Sehnen" und klagt: "Ich bin krank vor Liebesleid und innerem Weh".

Als Schwerkranker im Konzentrationslager ist er dem Tod jedoch näher als der Kanzel. Deshalb schlagen ihm Häftlinge im Priesterblock vor, sich im KZ weihen zu lassen. Doch Leisner träumt davon, in seiner nordrhein-westfälischen Heimat zum Priester zu werden und seine Primiz, die erste Messe, im Dom von Münster zu begehen. Diese Vorstellung zerschlägt sich spätestens, als die Kirche 1943 bei Luftangriffen schwer beschädigt wird. 1944 gibt er seine Zurückhaltung gegenüber der Idee auf, was ihm nicht leicht fällt. "Sein größter Schmerz war es, dass er nicht in Freiheit zum Priester geweiht werden konnte", sagt Monika Neudert vom Verein "Selige Märtyrer von Dachau". Angesichts seiner schweren Krankheit bleibt aber keine andere Wahl, als sich im Priesterblock weihen zu lassen. Am 23. September 1944 schreibt Leisner einen Brief an den Bischof von Münster und bittet um Erlaubnis, sich vom inhaftierten französischen Bischof Gabriel Piguet ins Amt einführen zu lassen. "Mein Sehnen und Beten geht nach dem Priestertum. Es ist, nachdem der Krieg unserer Heimat sein drohend Antlitz zuwendet, nicht gewiß, ob und wann ich die Weihe erhalten kann aus Ihren Händen, wie ich es am liebsten hätte." Die Vorbereitungen sind aufwendig und laufen im Verdeckten ab, die Geistlichen fürchten den berüchtigten Sadismus der Lager-SS, der am Ende alles zerstören könnte. Wie Lagerdekan Georg Schelling später einmal vermutet, hält wohl ein SS-Mann in der Lagerkommandantur eine schützende Hand über die geheime Primiz, als sie aufzufliegen droht. Außerdem genießen die Geistlichen ohnehin viele Vorzüge im KZ, dürfen zum Beispiel regelmäßig Gottesdienste feiern. Das katholische Stadtpfarramt St. Jakob Dachau steuert zu Leisners Weihe laut einem Schreiben aus dem Oktober 1944 ein Paket von mit 20 000 kleinen Hostien, 130 großen Hostien, acht Kerzen, sechs Flaschen Messwein, Wachsdraht sowie Kleidungsstücken für den Bischof bei. Auch eine "Schachtel mit 50 Zigarren" befinden sich dem Dokument zufolge in dem Paket.

Leisners Weihe findet am 17. Dezember 1944 statt und dauert von 8.15 bis 10 Uhr. Wie ein Teilnehmer festhält, ist Leisner bereits schwer gezeichnet. "Karl sah in dieser Zeit sehr schlecht aus, so daß man fürchten mußte, er werde nicht durchhalten." Die Priester stärken ihn für die kräftezehrende Zeremonie mit einem Gemisch aus Alkohol, Eiern, Traubenzucker und Kräutern, ein Häftlingsarzt soll Leisner sogar eine Koffeinspritze verpasst haben, "deren Dosis aber etwas zu groß war", wie Leisners Weggefährte Otto Pies später schreibt. "Bleich und erwartungsvoll" durchsteht der junge Diakon die strenge Liturgie in teils knieender Haltung mit Ritualen wie dem Anlegen der priesterlichen Gewänder und der Salbung. "Es war ein erschütterndes Bild", so Pies. Als frischgeborener Priester kommt der 29-Jährige zurück ins Krankenlager - "ermattet und um Luft ringend", wie teilnehmende Priester sich später erinnern. Am 26. Dezember, dem zweiten Weihnachtsfeiertag, feiert der todkranke Priester schließlich seine erste und letzte Messe - ohne Gesang, dazu fehlt die Kraft. Bei den teilnehmenden Priestern fließen die Tränen.

Der Geweihte ist erlöst. Am 30. Dezember schreibt er an seine Familie. "Was bin ich glücklich und Ihr mit mir. Ich kann es noch immer nicht fassen, daß Gott unser jahrelanges Beten und Warten so einzigartig und gnädig erhört hat." Die Priesterwerdung bezeichnet er als "herrlichste Stunden und Wochen meiner ganzen Haft" - von seinem miserablen Gesundheitszustand schreibt er nichts. "Wo hat dieser Wahnsinnsmann nur seine Kraft hergenommen?", fragt sich Monika Neudert, die sich intensiv mit dem kurzen Leben des Geistlichen beschäftigt hat 75 Jahre später.

Karl Leisner überlebt das Ende der Naziherrschaft 1945 nur um wenige Monate. Nach der Befreiung des Konzentrationslagers im April kommt er ins Waldsanatorium in Krailling, wo er am 12. August im Alter von 29 Jahren stirbt - ohne Bitterkeit, wie es scheint. Denn ans Ende seines letzten Tagebucheintrags schreibt er: "Segne auch, Höchster, meine Feinde."

© SZ vom 12.08.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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