Süddeutsche Zeitung

Wörthsee:"Ganz ehrlich? Wir wollen überleben"

Die Nachbarschaftshilfe kümmert sich seit 50 Jahren um alte und kranke Menschen, um Familien und Alleinstehende. Doch inzwischen machen ihr der Fachkräftemangel und die Bürokratie zu schaffen.

Von Patrizia Steipe, Wörthsee

Das Logo mit den poppigen Buchstaben, die die Worte "Jeder für Jeden" in einem Kreis formen, ist seit 1972 das Kennzeichen der Nachbarschaftshilfe Wörthsee. Nun hat die Einrichtung Anfang der Woche ihr 50-jähriges Bestehen gefeiert.

Begonnen hatte alles schon vorher mit Nachbarschaftshilfe im wörtlichen Sinn. "Ein paar engagierte Bürgerinnen und Bürger haben sich auf privater Basis um Kinder und alte Menschen gekümmert", berichtet die Vorsitzende Maria Rita Heßmann. Die Hilfe sei völlig unbürokratisch gewesen. Auch in anderen Gemeinden des Landkreises gab es diese Bewegung. 1972 wurden die privaten Initiativen in den Gemeinden dann in Vereine überführt, auch um die Helfer abzusichern. Das war der Beginn von "Jeder für Jeden", auch in Wörthsee. "Zweck des Vereins ist es, für die Gemeinde Wörthsee im Rahmen seiner Möglichkeiten Hilfe, Pflege und Betreuung alter, kranker und behinderter Menschen, sowie Hilfen und Betreuungsmaßnahmen für Alleinstehende, Familien, Kinder und Jugendliche zur Verfügung zu stellen", heißt es in der Satzung.

Die Aktiven kümmerten sich um alleinstehende alte und kranke Nachbarn bei, unterstützten Familien bei Problemen und bei der Kinderbetreuung. Kitas geschweige denn Kinderkrippen fehlten nämlich damals auf dem Land. "Anfangs konnten die Mütter ihre Kinder für ein paar Stunden im Kinderpark abgeben", erinnert sich Vorstandsmitglied Gundi Kögel. Und für die Senioren wurden Altennachmittage organisiert. Mit ihrem Einsatz wollten die Helfer ein Zeichen setzen gegen soziale Vereinsamung. 1973 wurde der Verein Mitglied des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, damit erlangte er die Gemeinnützigkeit.

Sechs Jahre später wurde der ambulante Pflegedienst gegründet und die erste ausgebildete Krankenschwester angestellt. Anfangs wurden erst wenige Patienten betreut. Sie sollten möglichst lange in den eigenen vier Wänden bleiben können. Ziel war, den Umzug in ein Pflegeheim zu vermeiden, aber auch pflegende Angehörige zu entlasten. Heute ist der Pflegedienst die größte Abteilung der Nachbarschaftshilfe, und seine kleinen Autos mit dem "Jeder für Jeden"-Logo sind überall im Ortsgebiet anzutreffen.

Aus den 18 Vereinsmitgliedern aus der Anfangszeit sind heute etwa 500 geworden. Es gibt 30 Festangestellte, die von circa 30 Ehrenamtlichen unterstützt werden, vier Fahrzeuge für den Ambulanten Pflegedienst und vier Betriebsstätten: die Geschäftsstelle in der Etterschlager Straße 46, in der auch der Ambulante Pflegedienst seinen Sitz hat, seit 1984 die Räume am Teilsrain 10, in denen Kurse wie Yoga, Gymnastik, das Erzählcafé oder Malen stattfinden, die Mittagsbetreuung, genannt "Mitti", in der Grundschule, die von 60 Schulkindern besucht wird, und seit 2015 als Herzstück das Urban-Dettmar-Haus an der Dorfstraße 26. Das ehemalige gemeindeeigene Pflegeheim war angesichts steigender Anforderungen geschlossen und der Nachbarschaftshilfe überlassen worden.

Seitdem werden hier tagsüber bis zu zwölf Senioren betreut; in Spielgruppen können sich außerdem die Ein- bis Dreijährigen auf den Kindergarten vorbereiten. Im Untergeschoss hat die Nachbarschaftshilfe einen Second-Hand-Basar mit gut erhaltener Kleidung zu kleinen Preisen eingerichtet. Während der Sommerferien stellt der Verein seit 1979 ein Ferienprogramm für Kinder auf die Beine. Und betagte Bürger machen bei den Mittwochstreffen Ausflüge in die Umgebung.

Seit zehn Jahren ist Maria Rita Heßmann Vorsitzende der Nachbarschaftshilfe. Im Vorstand ist Frauenpower angesagt. Stellvertreterin und Geschäftsführerin ist Petra Grabmair, Christiane Schmalz ist Kassiererin, Gundi Kögel kümmert sich um die Schriftsachen. Pflegedienstleiterin ist Beatrix Gerlach.

Obwohl der Bedarf für häusliche Pflege immer größer wird, kämpft die Nachbarschaftshilfe um ihr Überleben. "In Nachbargemeinden mussten bereits Ambulante Pflegedienste aufhören", bedauert Heßmann. Die größten Probleme seien die fehlenden Fachkräfte und die steigende Bürokratie. Daneben würden ehrenamtliche Helfer fehlen. Dabei sei die Arbeit sehr erfüllend, so Heßmann, die sich seit zehn Jahren engagiert. "Man bekommt viel Dankbarkeit. Das ist einfach schön", weiß sie.

Doch in der Pflege greife eine andere Tendenz um sich. Immer mehr Pflegeeinrichtungen würden zu großen Häusern zusammengelegt. "Es geht nur um Effizienz. Aber ist größer auch besser?" Das bezweifelt Heßmann. Im Gegenteil. Ihre Erfahrung ist, dass die Kunden - egal ob Senioren, Familien oder Kinder - den persönlichen Kontakt mit bekannten Kräften schätzen, zu denen sie Vertrauen haben. Ihr Wunsch für die Zukunft: "Ganz ehrlich? Wir wollen überleben", sagt Heßmann.

Bestens informiert mit SZ Plus – 4 Wochen kostenlos zur Probe lesen. Jetzt bestellen unter: www.sz.de/szplus-testen

URL:
www.sz.de/1.5668366
Copyright:
Süddeutsche Zeitung Digitale Medien GmbH / Süddeutsche Zeitung GmbH
Quelle:
SZ
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über Süddeutsche Zeitung Content. Bitte senden Sie Ihre Nutzungsanfrage an syndication@sueddeutsche.de.