Nischensport:Die Hochbegabelten

Nischensport: Sophie, Elina, Lea und Linda Unz beim sogenannten "Standkoosh". Zusammen mit Schwester Saskia haben sie so viele Medaillen gesammelt, dass sie selber gar nicht so recht wissen, wie oft sie jeweils schon Deutscher Meister waren.

Sophie, Elina, Lea und Linda Unz beim sogenannten "Standkoosh". Zusammen mit Schwester Saskia haben sie so viele Medaillen gesammelt, dass sie selber gar nicht so recht wissen, wie oft sie jeweils schon Deutscher Meister waren.

(Foto: Jana Islinger)

Die Unz-Schwestern sind dutzendfache Meister im Einradfahren. An diesem Wochenende können sie erneut Titel beim Bundeswettbewerb abräumen. Zu Besuch bei einer siebenköpfigen Familie, die für den Sport lebt.

Von Viktoria Spinrad

Mitten in den Beat der Musik tönt ein Knall. Plötzlich liegen vier Sättel am Boden. Ein Unfall? Nein, dramaturgisches Kalkül. Die vier Schwestern fahren auf ihren Einrädern weiter im Kreis und ziehen die Sättel hinter sich her. Die Gesichter konzentriert, die Arme wie Flügel ausgebreitet. Elina, die kleinste, lacht. "Machen wir ein Viereck", ruft sie, dann hüpfen sie mit ihren Einrädern auf der Stelle. Vier Schwestern auf dem Sprung nach oben.

Donnerstagabend, die Turnhalle der Grundschule Windach. Zwischen blauen Matten und Basketballkörben düsen die Zwillinge Sophie und Lea, 21, sowie Linda, 18 und Elina, zehn, mit ihren Einrädern herum. Lindas Zwillingsschwester Saskia ist gerade verletzt, eigentlich sind sie zu fünft. Vize-Weltmeisterinnen in einer Provinzturnhalle, 17 Kilometer östlich von Landsberg, 40 Kilometer westlich von München. Ein wenig Jane Austen'sches "Stolz und Vorurteil", mitten auf dem bayerischen Land. Nur dreht sich hier nicht alles ums Heiraten, sondern um das Hochrad dieser Zeit. Und um die Frage, wie es sein kann, dass gleich fünf Schwestern zu den erfolgreichsten Einradfahrerinnen Deutschlands zählen.

Nischensport: Die Medaillen alleine von Linda Unz. Wie oft sie schon Bayerische und Deutsche Meisterin war, weiß sie selber nicht so recht. "Ich hab nie gezählt", sagt sie.

Die Medaillen alleine von Linda Unz. Wie oft sie schon Bayerische und Deutsche Meisterin war, weiß sie selber nicht so recht. "Ich hab nie gezählt", sagt sie.

(Foto: Jana Islinger)

Es handelt sich um einen Nischensport, der lange eher im Norden Deutschlands beheimatet war. Eine Art Tanz auf einem Pendel, der von außen spektakulär aussieht und zugleich innere Ruhe erfordert. Dahinter steckt eine Szene, in der Außenbandrisse keine Seltenheit sind - und sich die Sportlerinnen gerne mal Bandagen gegenseitig verleihen. "Die Community ist toll", sagt Linda, 18. "Es geht um den Spaß", sagt ihre Zwillingsschwester Saskia.

Grad haben sie ihren größten Titel geholt: die Vize-Weltmeisterschaft in der Kleingruppe

Gerade einmal 350 Meter liegen zwischen dem Haus der selbsternannten "Unzis" und der Turnhalle. Einmal aus der Einfahrt raus, dreimal links, schon sind sie da. Mit dem Einrad, wie auch sonst. Im Sommer sind die vier älteren bei der Weltmeisterschaft in Grenoble Vize-Weltmeisterinnen geworden, ihr größter Erfolg. An diesem Wochenende steht die Deutsche Meisterschaft an. Ob es ihre achtzehnte ist oder die zwanzigste, das wissen sie selber nicht so ganz. Die Szene war lange in zwei Verbände gespalten, bei den doppelten Saisons gab es einige Medaillen zu holen. Einen Schlüssel dazu hat Sophie in der Jackentasche. Es ist der zur Turnhalle, mit freundlicher Genehmigung des Schulleiters. Auch ihm, sagt die Mutter, sei es zu verdanken, was die Mädels können.

Nischensport: Die Unz-Schwestern sind bekannt für ihre ausgeklügelten Tricks auf dem Einrad. Hier Sophie, 21 und Linda, 18.

Die Unz-Schwestern sind bekannt für ihre ausgeklügelten Tricks auf dem Einrad. Hier Sophie, 21 und Linda, 18.

(Foto: Jana Islinger)

Sie werfen sich über die Sättel und drehen das Rad vorne mit der Hand weiter. Sie fahren zu zweit nebenher auf dem Einrad, während die dritte mit je einem Bein auf den Sätteln als eine Art Pyramide mit balanciert. Sie demonstrieren zirkusartige Formationen, wo sie zu zweit auf einem Einrad fahren: Die eine fährt, die andere steht außen auf der Gabel, streckt das andere Bein und den Arm aus - und lächelt dabei.

Der TSV Gilching hat sich in 15 Jahren zur bayerischen Einrad-Hochburg gemausert

"Sie haben ein sehr hohes Trickniveau - und den Ehrgeiz, eine Kür fehlerfrei zu fahren und dabei noch Spaß zu haben", sagt Melanie Reich, 25, Vereinskumpanin beim TSV Gilching-Argelsried, bayerische Kadertrainerin und Weltmeisterin im Uphill Climbing. "Als Geschwister konnten sie sich in der Familie gut gegenseitig hochschrauben", sagt Maria Lenk, Ex-Profi und ehemalige Wegbegleiterin.

Nischensport: Vier der Unz-Schwestern bei den Deutschen Freestyle-Meisterschaften im Jahr 2016.

Vier der Unz-Schwestern bei den Deutschen Freestyle-Meisterschaften im Jahr 2016.

(Foto: TSV Gilching)

Dass Gilching heute eine Hochburg für Einradfahrer ist und mit die größte Abteilung Bayerns hat, geht auf die 38-jährige Gunzenhausenerin zurück. Als Schülerin am Gymnasium Gilching hatte sie bereits die Bewegungskünste-AG geleitet. Akrobatik, Jonglieren, Einradfahren. Als Studentin verliebte sie sich noch mehr in den Sport - und suchte eine sportliche Heimat. "Eigentlich wollte ich eine Mannschaft für mich", sagt sie am Telefon und lacht. Also gründete sie diese mit 22 Jahren selbst, mithilfe alter Schulfreunde und deren Eltern.

Nischensport: Die Gründungsversammlung im Jahr 2006. Mit Nachdruck hatte Maria Lenk (2.v.l.) für eine eigene Abteilung plädiert. Schnell entwickelte sich der Ort zu einem Mekka für Einradfahrer in der Region.

Die Gründungsversammlung im Jahr 2006. Mit Nachdruck hatte Maria Lenk (2.v.l.) für eine eigene Abteilung plädiert. Schnell entwickelte sich der Ort zu einem Mekka für Einradfahrer in der Region.

(Foto: Kurt Ossoinig/oh)

Vor 15 Jahren leitete sie dann das erste Training an. Mit dabei: Melanie Reich, die Uphill-Weltmeisterin. "Super" sei das damals gewesen, sagt diese: "Maria hat ein Talent dafür, die Kinder zu fesseln und zu halten." Schnell sprach sich das lustige Training in Gilching rum. Immer mehr Kinder im Ort fuhren mit dem Einrad zur Schule. Nach einem Jahr schon herrschte teils totale Überfüllung. Über 80 Leute kamen - so viele wie heute auch. "Wir hatten immer viel Spaß dabei", sagt Lenk.

Spaß an der Freude, darum geht es auch Matthias Niebergall. Mit 59 Jahren ist er der älteste Einradfahrer beim TSV. Mit 30 hatte er schon einmal etwas mit dem Sport geliebäugelt. Vor fünf Jahren stieß er dann zur Gilchinger Erwachsenengruppe - und blieb. Natürlich könnten die Kinder, die den Sport von klein auf lernen, ganz andere Tricks. "Wir werden zwar immer letzter. Aber dafür ist bei uns die beste Stimmung", sagt der Fahrlehrer.

Nischensport: Matthias Niebergall, 59, schätzt die familiäre Atmosphäre in der Gilchinger Einrad-Abteilung. Einmal im Jahr fährt die Gruppe zum Eisessen mit dem Einrad von Gilching zum Weßlinger See. "Da wird man ständig angesprochen", sagt er.

Matthias Niebergall, 59, schätzt die familiäre Atmosphäre in der Gilchinger Einrad-Abteilung. Einmal im Jahr fährt die Gruppe zum Eisessen mit dem Einrad von Gilching zum Weßlinger See. "Da wird man ständig angesprochen", sagt er.

(Foto: privat)

Am anderen Ende des Vereinsspektrums sind Leute wie Ann-Sophie Reinfelder, die zeigen, wie sehr sich die Gilchinger Sparte zu einer Anlaufstelle für Ambitionierte entwickelt hat. Einmal in der Woche fährt die 16-Jährige mehr als 50 Kilometer von Bichl zum Training nach Gilching. Auch sie muss ihre Medaillen erst einmal zählen. "Um die 15", sagt sie. In diesem Sommer ist sie Bayerische Meisterin in der Großgruppe geworden. Der Zusammenhalt in der Szene sei großartig, sagt sie. Sie ist eine der sechs des TSV, die bei der Deutschen Meisterschaft an diesem Wochenende im baden-württembergischen Schorndorf dabei sein werden.

Nischensport: Ann-Sophie Reinfelder, 16, wohnt in Bichl und fährt einmal die Woche extra über 50 km zum Einradtraining zum TSV Gilching. Mit der Großgruppe ist sie dieses Jahr bayerische Meisterin geworden. "Man lernt immer wieder neue Dinge dazu", sagt sie über das Einradfahren.

Ann-Sophie Reinfelder, 16, wohnt in Bichl und fährt einmal die Woche extra über 50 km zum Einradtraining zum TSV Gilching. Mit der Großgruppe ist sie dieses Jahr bayerische Meisterin geworden. "Man lernt immer wieder neue Dinge dazu", sagt sie über das Einradfahren.

(Foto: Josef Peintner/oh)

Zurück bei den "Unzis" in Windach. Sie sind jetzt bei einer Figur angekommen, die sie "Handwalk feet extended" nennen - eine Art Schubkarre auf dem Einrad. Während sich eine Person über den Sattel legt und die Hände am Reifen entlangführt, fährt die andere auf dem Einrad hinterher und hält die Beine der Vorderen hoch. "Meinst du, du schaffst das, Ellie?", ruft Lea ihrer kleinen Schwester zu. Die wiegt den Kopf. Elina, zehn, saß mit zwei Jahren zum ersten mal auf dem Einrad. Mit drei konnte sie fahren, mit fünf ist sie ihre erste Kür auf einem Wettbewerb gefahren. Seit dem Sommer ist sie Weltmeisterin in ihrer Altersklasse.

Mit Second-Hand-Teilen bauen sie sich ihre Räder selber

Aber sie ist eben doch noch ein paar Köpfe kleiner als ihre großen Schwestern. Lea deutet auf die Pedale. "Hier gibst du Schwung", sagt sie. Dann geht es los. Elinas Einrad wackelt, "nicht so hoch", ruft Lea, doch es klappt. "Es ist so genial, einen Zwilling zu haben", sagt Sophie. "Unter Geschwistern muss man sich nicht groß abstimmen. Da fährt man synchron", sagt Melanie Reich, die Uphill-Weltmeisterin. Doch ist das längst nicht alles.

In Windach geht es jetzt nach Hause. Gleich draußen hängen die Schwestern ihre Einräder auf. Ihre verhältnismäßig schweren Stahlgabeln sind nicht gerade die neuesten Top-Modelle. "Vorsintflutlich", nennt der Vater das Equipment scherzhaft. Aber warum hunderte Euro in die leichte Alugabeln stecken, wenn man auch so in der Weltspitze mitfährt? Wenn der Vater gelernter Ingenieur ist, kann man sich die Einzelteile bei eBay Kleinanzeigen kaufen und selbst verbauen.

Nischensport: Insgesamt 14 Einräder nennen die Unz-Schwestern ihr eigen. Luxus? Mitnichten. Die Familie setzt auf Nachhaltigkeit und Second-Hand. Alte Räder werden eigenhändig umgebaut.

Insgesamt 14 Einräder nennen die Unz-Schwestern ihr eigen. Luxus? Mitnichten. Die Familie setzt auf Nachhaltigkeit und Second-Hand. Alte Räder werden eigenhändig umgebaut.

(Foto: Jana Islinger)

Es geht ins Haus, wo die Mutter überall Bilder der Töchter auf dem Einrad aufgehängt hat. Sie selber war mal Deutsche Hockey-Jugendmeisterin und hat sowohl im Hockey als auch im Skilanglauf bei "Jugend trainiert für Olympia" mitgemacht. Die ehrgeizigen Eltern als Antreiber? "Antreiben musste man sie nie", sagt der Vater. "Manchmal muss man sie eher bremsen", sagt die Mutter. "Beide haben uns vermittelt, dass Sport etwas Tolles ist", sagt Lea über ihre Eltern.

Nischensport: Die Erfolgsfamilie: Papa Stefan Unz, 54, Linda, 18, Sophie, 21, Elina, 10, Mama Julia Unz, 49 (v.l.n.r.). Der Vater fährt Handbike, da er 1997 einen Motorradunfall hatte und seither querschnittgelähmt ist. Deshalb mussten die Kinder von klein auf viel helfen.

Die Erfolgsfamilie: Papa Stefan Unz, 54, Linda, 18, Sophie, 21, Elina, 10, Mama Julia Unz, 49 (v.l.n.r.). Der Vater fährt Handbike, da er 1997 einen Motorradunfall hatte und seither querschnittgelähmt ist. Deshalb mussten die Kinder von klein auf viel helfen.

(Foto: Jana Islinger)

13 Jahre ist es her, dass Sophie das Einradfahren bei einer Freundin entdeckte. Also gab's eins zum Geburtstag. Schnell wurde mehr daraus. Die Zwillinge fuhren erst in Landsberg, dann in Gilching im Verein. Anfangs gehörten sie zu den schlechtesten, dann hielten sie mit - und gewannen alsbald ihre ersten Medaillen.

Lea hält mit sechs Bänderrissen und einer Außenbandplastik den Verletzungsrekord

Die Logistik ist enorm: Der Vater fährt die Schwestern zu den Wettkämpfen, die Mutter kümmert sich um Lebensmittel und Wäsche. Brixen, Mondovi, Grenoble, Kanada, der Turnierkalender bestimmt den Familienalltag. Bei der WM in Montreal 2014 mussten sie die Einräder zerlegen, um Übergepäck zu vermeiden. "Das war Tetris", sagt Linda. "Man braucht Eltern, die mitmachen", sagt die Mutter. "Sonst wird das nix."

Nischensport: Mit Sophie Unz, 21, begann der Einrad-Zirkus in der Familie.

Mit Sophie Unz, 21, begann der Einrad-Zirkus in der Familie.

(Foto: Jana Islinger)

Im Flur haben die Schwestern ihre Orthesen deponiert, die sie um die Knöchel binden. Was dem Handballer das Knie, ist den Einradfahrern das Außenband. Und das haben sich hier fast alle von ihnen schon gerissen. Wie viele ihrer Mitstreiter fahren sie nur noch mit den Stabilisatoren um den Fuß. Den Familienrekord hält Lea, mit sechs Bänderrissen und einer Außenbandplastik. Soweit ausgeheilt, immerhin.

Nischensport: Mit der Flex hat der Vater Kerben im Einrad geschliffen - in der Hoffnung auf einen besseren Halt für seine Töchter.

Mit der Flex hat der Vater Kerben im Einrad geschliffen - in der Hoffnung auf einen besseren Halt für seine Töchter.

(Foto: Jana Islinger)

Im Gegensatz zum Fuß von Saskia. Bei der WM im Sommer stürzte sie beim Bergabfahren auf Zeit über eine Wurzel, riss sich das Außenband und eine Kapsel. Lässt man das Kind trotzdem antreten? Für Eltern ein Dilemma. "Manche sagen da: Nein, das war's", sagt die Mutter. Aber sie weiß auch, wie sehr ihre Kinder für den Sport leben. Zähneknirschend gaben sie ihr Go. Am selben Abend wurde Saskia Vize-Weltmeisterin - mithilfe einer entschärften Choreografie, viel Ibuprofen, einer Schiene und sehr viel Tapeverband.

Nischensport: Saskia Unz, 18, bei der WM in Grenoble - vor dem Unfall.

Saskia Unz, 18, bei der WM in Grenoble - vor dem Unfall.

(Foto: privat)

Bei der Deutschen Meisterschaft an diesem Wochenende kann sie nicht antreten - und bleibt zuhause. Dabeisein, ohne mitzumachen - "das wäre zu schwer für mich", sagt sie. Obwohl sie schon dutzendendfach vor einer Jury gefahren sind, sind ihre Schwestern "total aufgeregt". "Wenn man schon da ist, will man auch mitnehmen, was geht", sagt Sophie. Derweil schaut ihre verletzte Schwester gen Missouri in den USA, wo sich in zwei Jahren die besten Einradfahrer der Welt messen. Da würde sie gern in so vielen Disziplinen wie möglich antreten. Kür, Rennen, Marathon. Vielleicht, sagt der Vater, sollte die Familie am besten gleich ihr Auto verschiffen.

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