Kriegsende vor 75 Jahren:"Um 11.20 Uhr kommen von Grünsink her zehn amerikanische Panzer"

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Der Weßlinger Ortsarchivar Erich Rüba hat eine 110-seitige Chronik aus Zeitzeugenberichten und Dokumenten zusammengestellt. Der Flughafen in Oberpfaffenhofen war regelmäßiges Angriffsziel.

Von Patrizia Steipe, Weßling

Im Garten der Gemeindegalerie steht eine neue Skulptur. Drei Keramiktauben sitzen auf Podesten aus Stahlblech, daneben steht eine Stele mit der Aufschrift "75 Jahre Frieden". Die Weßlinger Künstlerin Renate Kaiser hat die Skulptur angefertigt, denn in diesen Tagen jährt sich das Ende des Zweiten Weltkriegs. Ortsarchivar Erich Rüba hat aus diesem Anlass eine Ausstellung kuratiert. "Weßling 1945 - Kriegsende und Neuanfang" lautet der Titel.

Eigentlich hätte sie am 26. April eröffnet werden sollen, das musste jedoch wegen des Coronavirus verschoben werden. Den Katalog zur Ausstellung gibt es aber schon. Auf 110 Seiten finden sich Dokumente, Zeitzeugenberichte, viele Fotos und Abbildungen von Gemälden und Exponaten aus dieser Zeit - wie ein Stahlhelm, der 1987 bei Erdaushubarbeiten für die Sporthalle Weßling gefunden wurde, der Holzkoffer eines Zwangsarbeiters oder das Baumstück mit eingewachsenen Bombenresten. Grundlage der Dokumentation sind die Schulchroniken von Weßling und Oberpfaffenhofen.

"Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht in der Nacht vom 8. bis 9. Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg in Europa. Bereits Tage davor, am 30. April 1945, übergaben die damaligen Bürgermeister von Weßling, Oberpfaffenhofen und Hochstadt die Ortschaften ohne Gegenwehr", lesen die Besucher auf dem Begleittext zur Friedensskulptur. Im Gemeindearchiv fand Rüba dazu die Notiz: "Um 11.20 Uhr kommen von Grünsink her zehn amerikanische Panzer. Mit einer weißen Serviette treten Polizeikommissar Georg Rieder und Bürgermeister Thomas Ostermair ihnen entgegen."

Der Flughafen in Oberpfaffenhofen war immer wieder Ziel von Luftangriffen - hier eine zerstörte Dornier-Halle. (Foto: Dornier-Privatarchiv Helmut Ziegleder, Greifenberg)

Das war nicht selbstverständlich, denn noch am 29. April 1945 musste der Volkssturm am Weßlinger Wasserberg eine Panzersperre errichten. Der ehemalige Kreisrat Rudolf Burger erinnerte sich, dass seine Eltern das Haus räumen mussten, da es in direkter Schusslinie lag. "Doch die kriegsmüde Bevölkerung konnte die Volkssturmmänner überzeugen, die Panzersperre wieder abzubauen, um durch die Gegenwehr das Dorf nicht sinnlos zu gefährden", so Rüba. Im Chaos der letzten Kriegstage notierte Lehrer Josef Strohmeier: "Deutsche Truppen terrorisieren das Dorf. Jedes Fahrzeug, auch Fahrräder werden beschlagnahmt. Außerdem rauben die Soldaten Zivilkleidung, um damit zu flüchten."

Nach der Übergabe konfiszierte die Besatzungsmacht circa 85 Häuser für rund 3000 Männer. "Sie müssen binnen 30 Minuten geräumt werden. Die Inwohner dürfen das Haus nicht mehr betreten. Da hilft kein Bitten und kein Flehen. Alles, was die Sieger darauf sagen, kommt immer auf den gleichen Satz hinaus: ,Wie haben eure Truppen in anderen Ländern gehaust'", erinnerte sich der Lehrer. Als Notquartiere dienten Waschküchen, Schuppen, Gartenhäuser und Garagen. Es habe zwar Plünderungen gegeben, "aber von Mißhandlungen der Bevölkerung habe ich nichts gehört", so Strohmeier. Schilder mit der Aufschrift "Eintritt für Civilisten verboten" wurden aufgestellt. Eines davon wurde nach dem Krieg zur Schneeschaufel umfunktioniert.

Der Dornier-Flughafen in Oberpfaffenhofen war über Monate regelmäßigen Luftangriffen ausgesetzt. Strohmeier notierte über einen Angriff: "Ein Bombengeschwader wirft von 17.05 bis 17.40 Uhr 251,9 Tonnen Sprengbomben und 45,5 Tonnen Brandbomben ab."

Auch die Weßlinger Kunststudentin Maria Theresia Rebay von Ehrenwiesen erinnerte sich an die Bombenhagel. Sie schrieb in ihrem mit vielen Illustrationen versehenen Tagebuch gegen Kriegsende: "Gestern bei dem Angriff hat's das Dornierwerk wieder ziemlich erwischt. Spreng- und Brandbomben. Unglaublicherweise haben die im Dornierwerk keinen Luftschutzkeller. Die Leute müssen alle in den Wald. Dort hätten sie sich um die Bäume gewickelt vor Angst, weil es so gekracht hat und die Americans so tief runtergeflogen sind, so haben es mir Arbeiter erzählt."

Eine Stele erinnert in Weßling an das Kriegsende vor 75 Jahren. (Foto: Patrizia Steipe)

Besonders hart traf es die Familie Mörtl aus Weichselbaum. "Die Familie hat in diesem Krieg drei ihrer Söhne verloren", vermeldete die Schulchronik. Im April 1945 brannte noch dazu nach einem Bombenangriff ihr Stadel ab.

Das alles ist nicht zu vergleichen mit den Schrecken an der Front. Das Gemeindearchiv verwahrt 500 Schreiben des ehemaligen Weßlinger Lehrers Reinhard Beck. Einen Monat vor Kriegsende schrieb er seinen Eltern: "Die russischen Panzer rollten vor uns, links von uns lief die Infanterie davon, wir hatten kein Maschinengewehr. Bei Nacht konnten wir fast nicht schlafen, bekamen oft kein Essen und immer kalt. In meinem Loch wurden zwei verwundet. Ich bin jetzt noch ganz blutig vom Verbinden."

An Unterricht ist in den letzten Kriegsmonaten nicht mehr zu denken. Das Amtsblatt des Landkreises ordnete an, dass "anstelle des Unterrichts wöchentlich zwei- bis dreimal kurze Schülerappelle abzuhalten sind, welche möglichst mit Turn- und Wintersportübungen sowie Heimatwanderungen zu verbinden sind."

Die unruhigen Zeiten sind an den Schülern nicht spurlos vorübergegangen. Fast verzweifelt schrieb eine Hilfslehrerin nach dem Krieg in die Weßlinger Schulchronik: "Die Schüler - namentlich die der oberen Klassen - waren zuchtlos und frech geworden. Die beiden Schulhelferinnen konnten sich nicht mehr durchsetzen."

Flüchtlinge aus dem Osten und Ausgebombte aus München ließen die Bevölkerungszahl steigen. Wohnbaracken wurden aufgestellt und es gab Einweisungen in Privatquartiere. Bei Kriegsbeginn hatten 746 Personen in Weßling gelebt, im Dezember 1945 waren es 1359. Und es wurden Kinder geboren. Die Weßlinger Hebamme Anna Wohlmuth verzeichnete in ihrem Rechnungsbuch 125 Geburtshilfen im Jahr 1945.

© SZ vom 29.04.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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