Öffentlicher NahverkehrZug um Zug

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Florian Iwersen, Bürgermeister Michael Sturm, Jörg Liewald und Anja Janotta (v.l.n.r.) stellen den avisierten Standort des Wendegleises infrage.
Florian Iwersen, Bürgermeister Michael Sturm, Jörg Liewald und Anja Janotta (v.l.n.r.) stellen den avisierten Standort des Wendegleises infrage. (Foto: Arlet Ulfers)

Seit einem Jahrzehnt kämpfen Anwohner des Weßlinger Bahnhofs gegen ein Wendegleis in ihrer Nachbarschaft. Bald dürfte eine Entscheidung fallen. Über Verschattung, Wertverfall und die Verlierer der Verkehrswende.

Von Viktoria Spinrad, Weßling

Keine 20 Meter liegen zwischen dem Schlafzimmer von Anja Janotta und der Verkehrswende. Einmal raus aus dem Haus, über die Straße und schon steht man vor einer Böschung, hinter der die S-Bahn sechsmal in der Stunde durchrauscht. Als sie herzog nach Weßling, vor 21 Jahren, da dachte sie noch: Das wird schlimm. Mittlerweile hat sie mit den Trassen hinter ihrem Garten Frieden geschlossen.

Wenn es mal wieder rumpelt und ihre Vitrine klappert, ist es für sie wie ein Uhrschlag, und dann herrscht wieder Stille. Vögel zwitschern, Gras wiegt sich im Wind. Dann schlägt für die Kinderbuchautorin die Stunde der Kreativität.

Die Frage ist, wie lange noch. Denn die Bahn hat große Pläne für das kleine Weßling. Das soll zum Umschlagplatz für die Verkehrswende werden – und so näher an München rücken. Und das mithilfe von Express-S-Bahnen (S18X), die zwischen Herrsching und dem Münchner Flughafen flitzen und Pendler beschleunigt zwischen Stadt und Land transportieren.

Direkt hinter Janottas Haus soll dafür ein Abstell- und Wendegleis entstehen. Eine Art Mini-Kopfbahnhof für das ausgeklügelte Tetris-System der zweiten Stammstrecke. Züge fahren rein, warten, werden über Nacht abgestellt – auf dass mehr Menschen auf die Schiene umsteigen und weniger CO₂ in die Luft geblasen wird.

Die Zukunft vor der idyllischen Haustür, der Katzensteinsiedlung mit ihren grünen Büschen und Einfamilienhäusern. Oh, wie schön ist Weßling? Janotta hadert. Mit dem Wendegleis, der recht niedrig angesetzten Schallschutzwand, dem Verkehrs-Hub im Schoße der Nachbarschaft. „Das ist unsere Heimat, die Heimat der Kinder, unsere Siedlung“, sagt sie. Warum genau hier? Warum nicht drüben am Feld, wo es keinen groß stören würde?

Seit einem Jahrzehnt geht der Streit schon. Es gab ein Dialogforum, Vor-Ort-Termine, Gespräche im Ministerium. Die Pläne blieben die gleichen, und mit ihnen die Angst in der Nachbarschaft. Nun läuft das letzte Aufbäumen der Anwohner gegen das Wendegleis hinter ihren Häusern. Zugleich geht es um mehr. Was macht es mit den Menschen, die auf der Suche nach Ruhe ins Münchner Umland zogen – und nun wie ein Schwamm mit aufgesaugt werden von der Großstadt?

Vor dem Laptop studiert das Quartett mögliche alternative Standorte.
Vor dem Laptop studiert das Quartett mögliche alternative Standorte. (Foto: Arlet Ulfers)

Ein Freitagabend, daheim bei Anja Janotta. Zwei weitere Nachbarn sind gekommen, Lagebesprechung. Regisseur Florian Iwersen, Ingenieur Jörg Liewald und Bürgermeister Michael Sturm (FW) sitzen vor einem Laptop und studieren den Bayernatlas mit seinen Katastern. Warum die Bahn ihnen das Wendegleis direkt vor die Nachbarschaft setzt mit ihren 62 Einfamilienhäusern, das versteht hier keiner so richtig. Schließlich gäbe es einen Kilometer weiter ja auch noch ein Feld, wo theoretisch Platz wäre. Das aber lehnt die Bahn ab.

Liewald sagt: „Dann haben wir hier die ganze Nacht den Lärm.“

Iwersen sagt: „Wie bei einem Partner, der schnarcht.“

Sturm sagt: „Die Frage ist, ob hier alles berücksichtigt wurde.“

Vorab und im Nachgang schicken sie seitenweise Unterlagen, darunter die zwölf Seiten lange Petition gegen das Wendegleis. Diese gleicht einer Doktorarbeit, inklusive Fußnoten. An mehreren Abenden haben sie die Köpfe zusammengesteckt, auf dass ihre geliebte Siedlung nicht zu einer lärmenden Bahnhofsgegend verkommt. Es geht um Luftpresser, Schallleistungspegel, Verschattung. Und die Frage, ob die Bahn nochmal ein Projekt aufschnüren sollte, das schon relativ weit gediehen ist.

Gemeinsam geht es raus zum Corpus Delicti, über einen Trampelpfad entlang der Bahnschienen. Dessen Tage sind gezählt. Hier, gleich neben dem Gleis, auf dem die Züge Richtung Herrsching fahren, soll das 210 Meter lange Abstell- und Wendegleis entstehen. 1775 Quadratmeter sollen dafür versiegelt werden.

Von Weßling mit nur drei Stopps nach München

Damit soll es möglich werden, dass die Express-S-Bahnen und die regulären eng getaktet hintereinanderfahren und so Pendler rasch von der einen in die andere Bahn umsteigen können. Von Weßling aus kann man dann nur mit Stopps in Germering-Unterpfaffenhofen und Pasing deutlich schneller zum Münchner Hauptbahnhof durchfahren. Klingt ja erstmal gut.

Doch im Ort haben sie dazu gemischte Gefühle. Viele befürchten, dass München-Pendler aus der Gegend mit dem Auto nach Weßling fahren und den Ort zuparken. Gleichzeitig ist es aber auch ein Gewinn für den 6000-Einwohner-Ort, auch für Anwohner wie Liewald, die regelmäßig mit der S-Bahn nach München fährt.

Wäre da nicht der Lärm. Die Anwohner haben ausgerechnet, dass mit dem Summen der Klimaanlagen auf dem Dach, dem Brummen der Transformatoren sowie Hilfsbetriebsumrichter und Luftpresser ein ständiger Lärmteppich über dem Wohngebiet liegen würde. Sie sind hier leidgeprüft mit dem Kirchturm, 120 Schläge morgens um 6 Uhr. Aber das erscheint ihnen dann doch zu viel – auch wenn die Immissionswerte laut der Bahn eingehalten würden.

Diese plant auch eine 2,50 Meter hohe Schallschutzwand. Diese sei das Ergebnis „einer unabhängigen gutachterlichen Betrachtung”, sagt die Bahn. „Niedlich“, moniert Iwersen – schließlich liegen die Klimaanlagen auf über vier Metern Höhe. Eine höhere Wand scheinen sie hier aber auch nicht so richtig zu wollen, Stichwort Verschattung. Das wäre, „als würde man hinter Gefängnismauern leben“, sagt Iwersen. Und nun?

Als „Nimbys“ sehen sie sich hier nicht

Dass sie einen Wertverfall, gar eine Unverkäuflichkeit ihrer Häuser befürchten, geben sie in ihrer Petition offen zu. Als „Nimbys“, also Leute, die keine allgemein nützliche, aber für sie belastende Infrastruktur in ihrem Hinterhof haben möchten, wollen sie sich hier nicht sehen. Es gehe ja nicht darum, dass Weßling kein Wendegleis bekommen soll. Im Gegenteil, sagt Iwersen, das Gleis könne gerne im Ort sein. Aber warum direkt im Schoß der Siedlung?

Eine Frage, auf die auch die Bahn keine klare Antwort liefert. Der Alternativstandort auf einem Feld, einen Kilometer westlich sei „unter anderen aus betrieblichen und organisatorischen Gründen nicht geeignet“, erklärt die Bahn. Falsch, sagen die Anwohner – die Fahrzeiten etwa könnten hier sehr wohl eingehalten werden.

An der angedachten Haltestelle Weichselbaum wiederum könnten die von der Bayerischen Eisenbahngesellschaft (BEG) gestellten und vertraglich fixierten Anforderungen nicht eingehalten werden, sagt die Bahn. Welche das sind, sagt sie nicht. Naheliegend ist auch, dass sich die Bahn schlicht leichter tut mit einem Projekt, das sie direkt am Bahnhof und auf eigenem Grund planen kann. Wo Zugführer direkt am Bahnhof sind und sich die Bahn nicht zusätzlich mit über einem Dutzend Grundstückseigentümern verhandeln muss.

Dazu kommt noch ein anderer Aspekt. Steigt man am Weßlinger Bahnhof ein, muss man erstmal einen Schritt nach oben machen. Der barrierefreie Umbau ist seit Jahrzehnten Thema. Die Bahn hat das dritte Gleis und das Projekt Barrierefreiheit zu einem Paket geschnürt.

Das bringt auch Bürgermeister Sturm in die Bredouille – denn auf letzteres möchte er auf keinen Fall verzichten. Ein taktisches Manöver der Bahn? Ein Eindruck, gegen den sich der Konzern wehrt. Warum sie das getan hat, erklärt sie auch nicht – stattdessen schickt sie Statistiken zur Barrierefreiheit.

Der Weßlinger Bahnhof soll barrierefrei umgebaut werden. Ein Mordsprojekt, das mit dem Wendegleis verzahnt ist - und so ein Dilemma schafft für den Ort.
Der Weßlinger Bahnhof soll barrierefrei umgebaut werden. Ein Mordsprojekt, das mit dem Wendegleis verzahnt ist - und so ein Dilemma schafft für den Ort. (Foto: Arlet Ulfers)

Auf dem Spaziergang ist die Gruppe an einer Buche angekommen, die gleich an den Gleisen liegt. Janotta deutet hoch, erzählt, wie ihre Kinder einst hier kletterten, weiter hoch, als sie eigentlich gedurft hätten. Ob der Baum dann der Schallschutzmauer weichen muss?

Natürlich geht es auch um Emotionen bei der zweiten Stammstrecke, dem größten Infrastrukturprojekt Bayerns, das ganz ursprünglich mal 2010 in Betrieb gehen sollte und dessen Kosten immer weiter explodieren. Die Planungen gleichen einem Kunststück, in dem Einwendungen wie die aus der Katzensteinsiedlung zwar eingepreist, aber am Ende doch eben Störfeuer sind.

Allein im Münchner Osten gingen 2000 Einwendungen ein. Jeder argumentatorische Fehler der Bahn könnte das Projekt noch weiter verzögern. Sie muss Ersatzhabitate für Kibitzpaare finden, und auch in Weßling ist an die Tierwelt gedacht. Übergangsweise sollen hier Reptilien-Ersatzhabitate „als vorgezogene Kompensationsmaßnahme zur Sicherung der kontinuierlichen ökologischen Funktionalität“ erstellt werden, wie es in einer Verfügung des Eisenbahn-Bundesamtes auf Beamtendeutsch heißt. Ein kleiner Baustein im Großprojekt, über den sie hier nur schmunzeln können.

Die erwartete Lärmbelästigung in Weßling: Rot steht für 60-65 Dezibel, Dunkelrot für 65-70, Lila für 70-75, blau für 75-80 und Dunkelblau für mehr als 80 Dezibel.
Die erwartete Lärmbelästigung in Weßling: Rot steht für 60-65 Dezibel, Dunkelrot für 65-70, Lila für 70-75, blau für 75-80 und Dunkelblau für mehr als 80 Dezibel. (Foto: Illustration: Deutsche Bahn)

Aber, mal kritisch nachgefragt: Muss man nicht damit rechnen, dass sich der Speckgürtel verändert, wenn man direkt an dessen Schienen zieht? Verhältnismäßig, sagt Iwersen, dürfe sich der Ort ja auch gern verändern. Aber man sei ja hergezogen in der Annahme, dass hier ab und zu mal ein Zug vorbeifahre – „aber so käme die Dauerbelastung.“

Manchmal, sagt er, komme er sich vor wie bei „Per Anhalter durch die Galaxis“, jener britischen Serie, in der einem Mann erklärt wird, dass sein Haus abgerissen wird, die Pläne hätten ja schließlich in einem Keller ausgelegen und es sei kein Einspruch erhoben worden. Nur, dass die Anwohner im Weßlinger Konflikt durchaus immer wieder ihre Präferenz vortrugen, das Ergebnis aber immer das gleiche blieb.

Ihre Petition ging hoch bis nach Berlin zum Bundesverkehrsministerium, doch auch das ließ sich nicht erweichen: Es empfiehlt eine Ablehnung. Niederlage in der Nachspielzeit? Der Ball liegt nun beim Eisenbahn-Bundesamt (EBA). Dieses entscheidet, inwieweit die Planung der Bahn zulässig ist. Eine Entscheidung, die keine einfache zu sein scheint. Bereits im November 2021 hat die Bahn den sogenannten Planfeststellungsbeschluss beantragt. Ursprünglich sollte dieser im Herbst 2023 fertig sein, dann im Sommer 2024.

Derzeit ermittelt es nach, ob die angedachte Lärmschutzwand genügt und inwieweit die Anwohner entschädigt werden müssten. Im dritten Quartal dieses Jahres erwartet die Bahn eine Entscheidung. Und wenn es so bleibt wie geplant? Klagen, Verkaufen, Rückzug? Anja Janotta wiegt den Kopf. Zum Verkaufen bräuchte man ja erstmal einen Käufer. „Und wer zieht schon ins Bahnhofsviertel?“ Um die Ecke von ihr wohnt ein älterer Herr, quasi in der zweiten Reihe. Sorgt ihn das Thema? Wie auch andere im Ort wirkt er überrascht. Ein Wendegleis? „Bis das da ist, bin ich eh’ schon tot“, sagt er.

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