Einmal im Jahr, meist im Frühherbst, geschieht ein großes Wunder. Dann erscheint die Literaturzeitschrift "Das Gedicht". Es ist nicht irgendeine, es ist jene, in der die bekanntesten deutschsprachigen Lyriker ihre Gedichte veröffentlichen. Der Mann, der sich jährlich zu diesem, auch finanziellen Abenteuer aufmacht, heißt Anton G. Leitner, 54, und wohnt in Weßling, südwestlich von München. Dort, in der 5200-Einwohner großen Gemeinde, hat er auch seinen Verlag, den Anton G. Leitner Verlag.
Die durchschnittliche Lebenszeit von Literaturzeitschriften beträgt fünf Jahre. Leitners "Gedicht"-Periodikum, zum ersten Mal 1992 erschienen, feiert im nächsten Jahr ihren 25-jährigen Geburtstag. Es gehört damit schon zu den ältesten Zeitschriften dieser Art, ein Methusalem, wenn man so will. Leitner, ohne dessen Leidenschaft zur Literatur und zur Lyrik, ohne dessen Einsatzwillen und Selbstausbeutung "Das Gedicht" nicht möglich wäre, wundert sich selber über sein Durchhaltevermögen. "Es ist unglaublich: ein Vierteljahrhundert!"
Wer seine Bibliothek unten im Keller seiner Wohnung besichtigen darf, dem wird schnell klar, dass Leitner und sein Verlag inzwischen zur deutschsprachigen Literaturgeschichte gehören und diese in den vergangenen Jahrzehnten mindestens mitgestaltet haben. Die Frage, die sich beim Anblick der vielen Bände stellt, lautet: Wer von den bekannten Lyrikern hat noch nicht in seiner Zeitschrift veröffentlicht? Dass Lyrik plötzlich in den Buchhandlungen und in den Verlagen weniger stiefmütterlich als früher behandelt wird, ist auch dem Weßlinger zu verdanken. Vom Rande her, an der Peripherie, so scheint es, lässt sich doch einiges bewirken.
Zu jedem Fußballspiel ein Gedicht
Zur Erinnerung: Leitner hat es immer wieder verstanden, seine Literaturzeitschrift und sich ins Gespräch zu bringen, zum Beispiel mit seinem Lyrik-Kanon, auf dem selbst der damalige und inzwischen verstorbene Kritikerpapst Marcel Reich-Ranicki reagierte. Es war ein Coup ganz nach dem Geschmack des Weßlingers. Er war auch einer der ersten, der seinen Verlag und seine Zeitschrift ins Internet stellte und seitdem intensiv die Multimedia-Möglichkeiten, die das digitale Zeitalter bietet, nutzt.
Zur Fußballweltmeister in Brasilien gab es einen Blog, auf dem Gedichte zum jeweiligen Spiel standen - spontan entstanden und geschrieben von der Internet-Gemeinde oder von bekannten Autoren. Zur Europameisterschaft wird es diesen Blog wieder geben, kündigt er an.
Wie umfassend und wie überregional, ja grenzüberschreitend Leitners Lyrik-Wirken ist, zeigt sich auch an den Aktivitäten um seine Zeitschrift, die inzwischen auch auf Englisch erscheint und somit ein "internationales Poesie-Organ ist, das einem breiten Publikum deutschsprachige Dichtung nahebringen möchte", wie der Weßlinger Verleger, der auch selber Gedichte veröffentlicht, betont.
Demnächst, so kündigt er an, wird es eine spanische Ausgabe geben. Dass er Gast bei Literaturfesten in der Republik ist und bei internationalen Symposien spricht, zeigt nur einen kleinen Ausschnitt seiner Aktivitäten. Vor acht Jahren hat er den Literaturpreis, den "Hochstadter Stier", ausgelobt, eine wunderbar komische und gleichzeitig ernste Veranstaltung in Form eines Poetry-Slams.
Crowdfunding finanziert Mundart
Seine Aktivitäten blieben der Literaturwelt nicht verborgen. Er gehört zum Literatenkreis der "Münchner Turmschreiber", im vergangenen Jahr erhielt er "für sein langjähriges und unermüdliches Engagement in Sachen Literaturvermittlung" den "Bayerischen Poetentaler", eine Auszeichnung, auf die er besonders stolz ist und die ihn bestärkte, sein großes Mundart-Projekt "Schnablgwax", an dem er seit Jahren arbeitet, zu veröffentlichen.
Auch hier ist der Weßlinger mit der neuen Zeit gegangen: Er hat es über Crowdfunding finanziert. In den kommenden Monaten geht er damit auf Tournee; im Juli hat ihn der Starnberger Landrat Karl Roth zu einer öffentlichen Lesung im Amtszimmer eingeladen - wieder so eine Geschichte, die typisch für den pfiffigen Weßlinger ist. Die diesjährige Ausgabe des "Gedichts" wird sich auch mit dem Thema Heimat und Heimatverlust beschäftigen, verrät er. Der Titel: "Der Heimat auf den Versen".
Beim Reclam-Verlag erscheint vor Weihnachten eine von ihm zusammengestellte Anthologie "Mach dein erstes Türchen auf". Man kann nicht behaupten, dass sich der Weßlinger auf seinen Lorbeeren ausruht. Ganz im Gegenteil: "Ich will was Neues ausprobieren - vor allem filmisch", kündigt er an. Und im nächsten Jahr soll das 25-jährige Bestehen seiner Zeitschrift im Münchner Literaturhaus groß gefeiert werden. Und es wäre nicht Leitner, würde er nicht zusätzlich zu einem Symposium einladen. Das Thema dürfte klar sein. "Zur Zukunft der Lyrik", lautet es. Sie wird weiter leuchten - dank einem wie Anton G. Leitner.