Sabrina Bleicher tastet an der silberschwarzen Box mit den vielen Knöpfen herum, doch nichts tut sich. Das einkaufswagenlange Gerät mit den steckdosenartigen Öffnungen mag seine Rätsel partout nicht ausspucken. Auch ihre Kolleginnen und Kollegen kommen nicht weiter bei der schwersten Challenge des Spiels, dem Höhepunkt des Teambuildings, wo bisher noch alle abbrechen mussten. Sie alle stehen ratlos vor dem Werkzeugkasten, der sogenannten Timetech-Toolbox, als hofften sie, diese würde nun endlich die Antwort ausspucken. Stattdessen schallt eine Durchsage durch den Raum: „Team Gelb hat die Aufgabe gelöst.“ Doch Team Grün, Bleichers Team, hadert. „Mist“, flüstert eine. Ein paar Meter weiter beobachten zwei junge Männer die Gruppe und kneten ihre Finger.
Ein Freitagnachmittag bei „Xylem Analytics“. An normalen Tagen ist der Eckraum im Hauptgebäude des Weilheimer Messgeräteherstellers für Wasseranalysen schlicht ein Besprechungsraum. Doch an diesem Nachmittag sind die Jalousien heruntergelassen, Blaulicht flackert durch den Raum.In der Mitte thront ein kühlschrankhoher Kasten mit Lichterzeile und Steckleisten: die Zeitmaschine. Drumherum wuseln Chemiker und Physiker, Elektrotechniker und Logistiker. Sie drücken auf Knöpfe, stecken Kabel in Maschinen und verzweifeln immer wieder an der Technik. Wenn es gut läuft, das Rätsel geknackt ist, gibt's ein High Five. Eine künstliche Frauenstimme hallt durch das Gewusel, mit Sätzen wie: „Team Gelb hat die Aufgabe gelöst.“ Oder: „Sprachsteuerung noch fehlerhaft.“ Rudelmanagement aus der Maschine.
LED-Lichter, KI-Stimme, blinkende Maschinen: Es ist, als wäre beim Hidden Champion im Weilheimer Gewerbegebiet eine Mischung aus Star Treck, ISS und Space-X ausgebrochen. Nicht ohne Grund: Der Besprechungsraum wurde kurzerhand zum Escape-Room umfunktioniert, also zu einer Spielstätte, in der Rätsel zu lösen sind. In diesem Fall reisen die Teilnehmer metaphorisch durch die Zeit. Geschaffen haben dieses Setting zwei Tüftler, die hinter einer Art DJ-Pult stehen, von wo aus sie das Spiel mitsteuern können.
Wobei sie eher wie zwei Barkeeper wirken, so wie sie dastehen und die Hände hinter den Rücken verschränkt halten. Zumindest bei Korbi Krinner ist man da gar nicht weit von der Realität entfernt. Der 32-jährige gebürtige Starnberger und Wahl-Geretsrieder betreibt seit Jahren den „Hirschstadl“, ein Dienstleistungssystem mit mobilen Cocktailbars. Nun folgt der mobile Escape-Room. Neben ihm beobachtet Paul Krieg den Fortschritt der einzelnen Teams auf dem Bildschirm; der 25-Jährige ist der Daniel Düsentrieb des Gespanns.

Eine Freundin Krinners war es, die ihm von einem enttäuschenden Ausflug zu einer 0815-Version des Fluchtraums erzählt hatte, wie sie seit Jahren als Teambuilding-Maßnahme oder auch als Geburtstagsevent nachgefragt sind. Krinner dachte sich: Das muss doch besser gehen. Und so tat er sich mit seinem Spezl von der Eresinger Feuerwehr zusammen, der Maschinenbau studiert und zu Hause eine Art 3D-Druckerfarm mit 17 Exemplaren betreibt. Die liefen dann alsbald mit den Komponenten heiß. Über anderthalb Jahre zeichneten und druckten, löteten und montierten die beiden ihren Traum zusammen. Steckten 60 000 Euro an Materialkosten rein und unzählige Stunden Freizeit. Am Ende stand das Start-up „Unity Xcape“, frei übersetzt: Einheitsflucht. „Das muss jetzt funktionieren“, sagt Krinner. Gelingt die Generalprobe?
Aus dem Gamer-Hobby ist längst ein Breitensport geworden
13.06 Uhr, die Mitarbeiter versammeln sich im Halbkreis. 20 Freiwillige, die jetzt auch einfach Feierabend machen und nach Hause gehen könnten. Stattdessen haben sie sich für den Spielenachmittag im Erdgeschoss des Büros entschieden; der soll den Teamgeist stärken. Auch der Standortleiter ist mit dabei. Ulrich Schwab, Hornbrille, lockere Sprüche, möchte, dass „Xylem Analytics“ als modernes und attraktives Unternehmen gesehen wird. Identifikation durch gemeinsamen Spaß - das ist eine beliebte Formel in der Firmenwelt, die auch hier greifen soll. Reicht das Spiel an die Erwartungen heran?
13.10 Uhr. Paul Krieg stützt den Kopf in der Hand ab und knabbert an den Fingern, Korbi Krinner tritt auf der Stelle. Derweil verteilt die KI namens „Nueva“ (die Neue) die Leute in die Teams Gelb, Grün, Rot und Blau. Wettbewerb, Kooperation, kognitive Herausforderung, indem man sich aus einem Raum befreit oder eine Mission erfüllt: Das ist das bewährte Rezept der „Fluchtspiele“. Über Japan und Europa haben sich diese seit 2013 an auch in Deutschland breitgemacht. Am Anfang tüftelten sich vor allem Nerds und Gamer durch die Rätsel, längst versuchen sich Touristen und eben auch Firmenteams an konzertierten Kollektiv-Befreiungsaktionen. Die gibt es mal drinnen, mal draußen, mal analog, mal mit Virtual Reality, mal an festen Standorten, mal verpackt in Kisten.


In Bayern ist München Hotspot, mehr als 60 Escape-Rooms warten hier auf Freunde des gepflegten Denkspiels. Auf dem Land hingegen gibt es kaum Angebote. Eben darin sehen die beiden Erfinder den Zauber ihrer mobilen Variante. Vom Lager in Eresing im Landkreis Landsberg aus können sie das Equipment im Van quer durch das Münchner Umland transportieren. Die Firmen müssen also nicht mehr in die Landeshauptstadt pilgern. Nein, die „Teambuilding Revolution“ kommt zu ihnen. So bewerben die beiden ihr Produkt selbstbewusst auf der eigens eingerichteten Homepage.
Revolution - und Konfusion. Halbsätze, die man durch die Luft wabern hört:
„Die Anzeige ist ja schon längst…“
„Ah, schaut’s mal!“
„Über links oder über rechts? - nach rechts rein!“
„Hat das was mit Rot und Orange zu tun?“
Wie ein Jäger am Jagdstand beobachtet Korbi Krinner das Treiben von seiner Kontrollstation aus. Bis zu sechs Veranstaltungen managt er pro Tag mit seinem mobilen „Hirschstadl“. Nun denkt er über ein Franchise-Konzept mit dem Escape-Room nach, den er vervielfältigen und die Konzessionen verkaufen könnte. Doch davor muss sich erst einmal die Erstversion des Spiels im Weilheimer Testlauf bewähren.
Mal macht Krinner einen Satz nach vorn, dreht an Teilen, um den Teams zu helfen. Mal hält er sich zurück. Sechs verschiedene Stufen haben er und sein Spezl eingebaut. Erst, wenn alle vier Teams die einzelnen Aufgaben geschafft haben, geht es zur nächsten Challenge. Doch dass es hier an diesem Nachmittag vor allem um Kooperation geht, dass alle gewinnen oder keiner, das scheinen nicht alle verstanden zu haben. Die meisten waren noch nie in einem Escape-Room. Noch nie in einer fiktiven Zeitmaschine. Sind noch nie ungeplant in eine weite Vergangenheit gereist. Mussten noch nie Aktienkurse aus der Zukunft besorgen. Und so kämpft Standortleiter Schwab mit einer gameboyartigen Konsole in der Hand. Eine Monteurin mit einem Geheimfach. Und Sabrina Bleicher, Mitarbeiterin in der chemischen Produktion, mit einer Kabelkombination.


Es ist diese wilde Durchmischung, die etwas positive Disruption ins Unternehmen bringen soll, auf dass die Ideen fließen und sich jede und jeder willkommen fühlt. Deshalb lädt Standortleiter Schwab seine Mitarbeiter regelmäßig zu Frühstücksrunden ein, wo die Leute erzählen sollen, was ihnen auf dem Herzen liegt. In Zeiten der strategischen Neuausrichtung möchte er etwaigen Sorgen gleich vorgreifen, bevor sie sich verselbstständigen. Dazu organisiert Sabrina Bleicher regelmäßig Events. Mal wird Harry Potter von 1 bis 7 geschaut, mal gibt's einen Brettspielnachmittag - Hauptsache, die Leute kommen zusammen.
13.27 Uhr. Sabrina Bleicher kämpft mit einer Batterie in der Hand. „Das ist zu kompliziert, jetzt bin ich echt verwirrt.“ Was tun? Die Zeit drängt, die Teams hängen hinterher. Korbi Krinner macht jetzt einen Satz nach vorn und leistet Hilfestellung. Kurz darauf findet sich der Standortleiter in Nöten. Bei ihm blinkt die Maschine, bei den anderen nicht. „Jetzt woaß ich ned“, sagt er und zieht an einem Stecker. Und siehe da, die KI hat Lob parat: „Team Rot hat die Aufgabe gelöst.“ High Fives, Teambuilding in Abklatschform.
Was haben die beiden Gründer nicht getüftelt, um eben solche Erfolgsmomente zu schaffen. Hundert Kilogramm Kunststoff haben Krieg und Krinner mit den 3D-Druckern gedruckt, mehr als 5000 LED-Lichter verbaut. Alleine in der Zeitreisemaschine haben sie 800 Meter Kabel verlegt und eine fast zweistündige Sounddatei mit Aftereffekten erstellt. Und das alles neben ihren eigentlichen Beschäftigungen. Ganz so ausgebufft war das Ganze eigentlich nicht geplant gewesen. Doch dann, erzählen die beiden, sei eben eines zum anderen gekommen.
100 Kilo Kunststoff, 800 Meter Kabel und mehr als 5000 LED-Lichter: Das Projekt ist ein technisches Gesamtkunstwerk
Und so fand sich Maschinenbauer Krieg in Nerd-Foren und vor Youtube-Videos wieder, eigens für das Projekt Escape-Room brachte er sich das Programmieren bei. Es ist nicht seine erste Gründung. Als er bei der Feuerwehr feststellte, dass er keinen guten Platz für seinen Melder fand, entwarf er kurzerhand seine eigenen Taschen für die Piepser. Mittlerweile ist seine Marke „3D-Printshark“ eine beliebte Anlaufstelle für Einsatzkräfte. Und so ist die Geschichte der blinkenden Zeitmaschine in der Provinz auch eine Erzählung über kreatives Erfindertum zweier Tüftler, die auch mal ins Risiko gehen, um etwas Neues zu schaffen und dabei vielleicht eine Marktlücke bedienen. 39 Euro aufwärts pro Person soll die Teilnahme am Escape-Room je nach Teamgröße in Zukunft kosten.
Im Besprechungsraum läuft mittlerweile die zweite Halbzeit. Im Akkord spuckt ein handbreiter Drucker Fotos der Teams aus. In der Zeitmaschine haben sie eigens Kameras verbaut. Um 13.45 Uhr sieht man dann plötzlich nur noch die Hinterteile der Belegschaft. Alle hängen sie vor der Zeitmaschine am Boden und fuchteln mit Steckern umher. Egal, ob Fußvolk oder Führungskraft, der Escape-Room macht sie alle gleich. Hier zählt nur das Hirnschmalz zum logischen Denken. Von links nach rechts? Oder auf drei? Irgendwann ertönt die erlösende KI-Stimme: „Das Kühlsystem wurde wiederhergestellt.“


Fehlt nur noch die letzte Prüfung. Die, bei der noch alle Versuchskaninchen der Erfinder aufgegeben haben, bei der Sabrina Bleicher fast verzweifeln wollte. Nachdem Korbi Krinner sie beim Hantieren beobachtet hat, macht er ein paar Schritte hinter seiner Konsole hervor und zeigt mit dem Finger auf die entscheidende Stelle. Und siehe da: „Team Grün hat die Aufgabe gelöst, die manuelle Zeiteingabe auf das Jahr 2145 war erfolgreich.“ Kurz darauf folgt die nächste frohe Botschaft: Ihr habt es geschafft. „Da kann ich ja kündigen!“, ruft einer. Alle lachen.
Das Licht geht wieder an, aus dem Nebenuniversum wird wieder der Besprechungsraum. Und, wie war's? Standortleiter Schwab kennt Krinner persönlich, doch es wirkt nicht nur wie Schützenhilfe, wie er von „kniffligen Fragen“ und „faszinierender Technik“ schwärmt. „Ein schönes Erlebnis“, resümiert er. Mal etwas anderes, ist von den restlichen Spielern zu hören. Vielleicht etwas kurz mit einer Stunde, aber man lerne andere Kollegen kennen, mit denen man sonst nicht viel zu tun habe. Wen man auch fragt, alle ziehen sie positive Fazits.
Derweil ist Sabrina Bleicher noch zu einer Art informellen Nachbesprechung geblieben. Krieg und Krinner erklären ihr, wieso sie in einem Kasten Spritzen verbaut haben und wie die Zeitmaschine geboren wurde. Ihre Finger haben sich längst wieder entspannt.