Süddeutsche Zeitung

Visionen für das Fünfseenland:Weg vom Einfamlienhaus, hin zum Turm

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Die Architekten des Wessobrunner Kreises machen sich für alternative Wohnformen stark. Ihr Ziel sind niedrige Immobilienpreise und gebremster Flächenfraß.

Von Armin Greune, Utting

Erschwinglichen Wohnraum schaffen, Flächenverbrauch eindämmen und Klimaschutz auf lokaler Ebene verwirklichen: Das sind Themen, die gerade den Kommunalwahlkampf prägen. Sie sind aber darüber hinaus von entscheidender Bedeutung für die langfristige Siedlungsentwicklung und die allgemeine Lebensqualität. Nun meldet sich dazu das Architekturforum Wessobrunner Kreis (WK) zu Wort: Ohne Rücksicht auf die eigenen Honorare fordern die Planer vehement eine Abkehr vom Einfamilienhaus. Mit einer fast 100-seitigen Broschüre wenden sich die Architekten an Kollegen, Bauherren und politische Entscheidungsträger, um eine neue ressourcenschonende und nachhaltige Baukultur einzuleiten.

Die Studie "Lebenswert. Familientaugliche Wohnungen statt Einfamilienhäuser" kann auf der Homepage www.wessobrunner-kreis.de eingesehen werden. Vom Frühjahr an sollen die Anregungen intensiv mit lokalen und regionalen Baubehörden diskutiert werden, sagt der WK-Vorsitzende Benedikt Sunder-Plassmann. Zudem sei vorgesehen, den Inhalt der Broschüre in öffentlichen Veranstaltungen im Raum Landsberg, Starnberg, Weilheim-Schongau, Bad Tölz-Wolfratshausen und Garmisch-Partenkirchen vorzustellen.

Das klassische Einfamilienhaus mit Garten sei "künftig weder ökonomisch noch ökologisch zu verantworten", meint Sunder-Plassmann. Mit der Studie wolle man Konzepte vorlegen, um im Wohnungsbau die gleiche Aufenthaltsqualität wie im Eigenheim zu erreichen und Raum für den sozialen Austausch unter Nachbarn zu schaffen. Dem galoppierenden Flächenfraß will man mit Verdichtung, Aufstockung und modularer Bauweise begegnen. Zudem werden in den neun Kapiteln der Broschüre ökologische und energetische Aspekte des Bauens erläutert und Ideen zur nachträglichen, besseren Nutzung von bereits bebauten Arealen ausgearbeitet.

Den umfangreichsten Beitrag, "Flächenfraß durch Einfamilienhäuser", haben Josefine und Gottfried Herz verfasst. Sie nehmen auch soziologische Aspekte unter die Lupe: den Widerstreit von ungehemmtem Konsum und Nachhaltigkeit oder den Gegensatz von individuellem Besitzanspruch zum "sozioökologischem Mehrwert durch Teilen in der Gemeinschaft". Die Autoren legen dar, wie kollektiv genutzte Gärten zur Selbstversorgung beitragen oder Bäume und Fassadenbegrünung wirksam CO₂ absorbieren. Sie stellen ihr Konzept gestapelter Wohnungen vor: Fünf Eigenheime wären so hoch wie ein ausgewachsener Baum: "Wäre das nicht das 'Einfügungsgebot' aus dem Baugesetzbuch in heutiger Zeit?", fragen der Tutzinger Architekt und seine Tochter. Die Uttingerin Gudrun Krestel vergleicht Landverbrauch und Energieeffizienz von Einfamilien- und Terrassenhäusern: Die benötigen nur 36 Prozent der überbauten Grundfläche pro Bewohner, die von einem Eigenheim beansprucht wird. Der Verbrauch von Heizenergie und der CO₂-Ausstoß pro Kopf ließe sich auf ein Drittel reduzieren. Im "Leitartikel" der Broschüre legt Dietfried Gruber die Ausgangssituation und die Lösungsvorschläge der Architekten dar: "An Wohnungen mit Einfamilienhausqualität hat man in Deutschland bisher zu selten gedacht."

So regt unter der Überschrift "Ohne Grund" Roger Mantl an, die ohnehin versiegelten Flächen von Garagenhöfen mit kostengünstigen Wohnmodulen aus Holz zu überbauen und so hässliche "Unorte" gestalterisch und ökologisch aufzuwerten. Allein im Landsberger Osten hat der Architekt 58 Garagenzeilen mit Flachdächern gefunden, die dazu geeignet wären. Sein Kollege Franz Kargl schlägt Mehrfamilienhäuser mit begrünten und leicht temperierten Innenhöfen vor. Und der Schondorfer Matthias Rathke stellt als Alternative zum Doppelhaus ein Modularhaus mit optimaler Wohnraumnutzung vor, das je nach den Bedürfnissen der Bewohner flexibel unterteilbar und zu erweitern wäre.

Bettina und Benedikt Sunder-Plassmann wollen die großen Gärten der Siedlungen aus den 70er Jahren nachverdichten lassen. Dazu bietet ihr Uttinger Büro drei Konzepte an: Aufstockung auf bestehenden Garagen, zweistöckige Wohntürme auf fünf mal fünf Meter großem Grundriss für kleine Familien oder barrierefreie, L-Förmige Pavillons für Senioren. Auch ihr Herrschinger Kollege Fabian Wagner will der Zersiedelung mit verdichteter Bauweise entgegenwirken, die eine gemeinsame Nutzung der Bewohner von Spiel- und Arbeitsräumen, aber auch Car-Sharing vorsieht. Als Beispiel hat Wagner in seinem Heimatort Breitbrunn die einsturzgefährdete Heilig-Geist-Kirche ausgesucht: Auf ihrer Stahlbetonkonstruktion könnten nach Rückbau des Dachs pyramidenförmig fünf Etagen mit 18 Wohnungen, vielen Gemeinschaftsräumen und großzügigen Terrassen errichtet werden.

Voraussetzung für die Ideen wäre allerdings ein Umdenken der Kommunen und eine Novellierung der Baugesetze. Der Wessobrunner Kreis hat den rigiden Bauvorgaben in Bezug auf Abstandsflächen, Anzahl von Geschossen und Gebäudehöhen den Kampf angesagt. Erklärtes Ziel des Vereins ist seit 21 Jahren, Städteplaner und Baubehörden zu originären Visionen zu ermutigen. In der Broschüre steckt ein Jahr Arbeit. Sie wurde mit 20 600 Euro als eines von 13 Projekten aus 120 Wettbewerbsbeiträgen vom "Fonds Nachhaltigkeitskultur" des Bundeskanzleramts gefördert.

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SZ vom 28.02.2020
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