Sie kommt pünktlich zum Termin, ist ein wenig außer Atem und trinkt erst mal einen Kaffee. Es sind stressige und aufregende Wochen für Simone Ketterl aus Utting, seitdem sie in Bayern auf den zweiten Listenplatz des Bündnisses Sahra Wagenknecht (BSW) gesetzt worden ist. Mit dieser Platzierung hinter dem Landesvorsitzenden Klaus Ernst hat Ketterl durchaus Chancen, in den Bundestag einzuziehen.
Während des Gesprächs erhält Ketterl eine Nachricht von Ernst, der ebenso wie sie von der Linkspartei in das erst vor einem Jahr gegründeten BSW gewechselt ist. Dies sei „ohne Groll“ geschehen, wie sie sagt. Doch die Linken hätten sich zuletzt zu sehr mit sich selbst beschäftigt und nicht mehr die Bevölkerung erreicht, sagt die 36-jährige BSW-Bundestagskandidatin. Die Sorgen und Nöte – vor allem der einfachen Leute und der Geringverdiener – müssten wieder ernster genommen werden. Es gehe ihr um soziale Gerechtigkeit, um bezahlbaren Wohnraum, sichere und höhere Renten sowie bessere Bildungschancen, unabhängig von der sozialen Herkunft. Nur um einige Stichpunkte ihrer Themen zu nennen.
Ketterl ist Mutter von zwei Kindern. Sie hat Neuere Deutsche Literaturwissenschaft in München und Leeds studiert und als wissenschaftliche Mitarbeiterin an den Universitäten in Leipzig und Bamberg unterrichtet. Zudem absolvierte sie ein Volontariat bei der Landshuter Zeitung und wurde somit auch Redakteurin. Dass Ketterl sowohl den Wissenschaftsbetrieb als auch die Medienbranche kennt, dient auch ihrem derzeitigen Job als Pressesprecherin der Technischen Hochschule Ingolstadt.
Aufgewachsen ist sie in Cham in der Oberpfalz, der Vater ist Maler und Lackierer und stand lange Zeit am Fließband von BMW, bevor er in Rente ging. Ihre Mutter ist in der ambulanten Alten- und Krankenpflege tätig. Mit 21 Jahren trat Ketterl in die SPD ein. Sie ist Pazifistin, was auch mit dem zweiten Irakkrieg der USA und deren „aggressiven Außenpolitik“ zu tun habe, erzählt Ketterl. Aus der SPD war sie nach zwölf Jahren ausgetreten, weil es das damalige Führungsduo Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken nicht geschafft habe, die Partei „nach links zu drehen“ und den notwendigen Wandel im Land herbeizuführen.
Genau das will Ketterl mit den neuen Impulsen des BSW erreichen, das sie jetzt als Direktkandidatin im Wahlkreis Passau aufgestellt hat. Warum aber dort? In dieser ländlichen Region sei die medizinische Versorgung unzureichend, es fehlen Ärzte. Auch die Krise der Autozulieferer in dieser Region treibe sie um, so Ketterl. Passau und Niederbayern kenne sie recht gut von Besuchen bei einer Freundin und durch das Projekt „Zeitung in der Schule“, das sie früher mitbetreut habe.
Sie sei keine „Putin-Versteherin“
Die Kandidatin ist bayernweit im Wahlkampf unterwegs, klebt Plakate, organisiert „Stammtische“ und trifft Unterstützer wie unter anderem auch im Gautinger Ortsteil Stockdorf. Die Bewerberin plädiert für diplomatische Friedenslösungen und Verhandlungen im Ukrainekrieg und lehnt Aufrüstung und den Abbau von Sozialleistungen ab. Und sie betont, keine „Putin-Versteherin“ zu sein. Sie verurteile dessen Angriffskrieg, aber auch der Westen und die Nato hätten vor dem Krieg politische Fehler gemacht, findet sie.
Den Fünf-Punkte-Antrag von CDU-Chef Friedrich Merz zu einer verschärften Asylpolitik, der am 29. Januar nur mit Stimmen der AfD den Bundestag passiert hat, nennt Ketterl „ungut“, „unerklärlich“ und „symbolpolitischen Blödsinn“. Denn dieser „blinde Aktionismus“ sei an den Grenzen personell und auch nach EU-Recht gar nicht umsetzbar. Zudem sei nicht die Migration an sich das Problem, sondern wie damit umgegangen werde. „Wenn Integration nicht funktioniert, schürt auch das Ausländerfeindlichkeit“, sagt die BSW-Kandidatin.
Auch faire Arbeitsbedingungen, gerechte Löhne, Vermögensteuer, günstigere Preise im öffentlichen Personennahverkehr und den Klimawandel hat Ketterl auf ihrer Agenda. „Doch Umweltschutz muss sozialverträglich sein und darf nicht auf Kosten der Menschen mit mittleren und niedrigen Einkommen gehen“, betont die Uttingerin.
Das habe ihrer Ansicht nach vor allem die FDP nicht im Blick. Sie kritisiert deren Neoliberalismus und Narrative wie „Vom Tellerwäscher zum Millionär“ und „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Und es sei doch am Ende der Ampelkoalition deutlich geworden, dass sie „zuletzt nur noch gelb geblinkt hat“.
Sie will die Probleme der Basis ernst nehmen
Eines haben BSW und die FDP aber gemeinsam: Beide müssen um jede Stimme kämpfen, um die Fünf-Prozent-Hürde zu schaffen, um im Bundestag vertreten zu sein. Ketterls Partei soll derzeit bei zwei bis fünf Prozent der Wählerstimmen liegen. „Es ist noch eine Blackbox“, sagt Ketterl, die jedoch weiterhin zuversichtlich ist, nach Berlin zu kommen. Allerdings ist dies noch ein beschwerlicher Weg. Ketterl ist jedoch ein optimistischer Mensch, der den Dialog mit den Leuten sucht, um deren Bedürfnisse zu erkennen und entsprechend auf sie einzugehen – nämlich, frei nach Brecht: die Probleme der Basis ernst zu nehmen.
Vor einiger Zeit hat Simone Ketterl im Studium Generale der Volkshochschule Coburg einen Vortrag über Bertolt Brecht als „Theater-Reformer, Womanizer und Kommunisten“ gehalten. Ebenso schätzt die Literaturwissenschaftlerin die plastische Sprache von Heinrich von Kleist und dessen psychologischen Blick in menschliche Abgründe. Ihr Favorit ist aber der österreichische Autor Thomas Bernhard, insbesondere mit seiner Erzählung „Holzfällen. Eine Erregung“.
Dieses Buch ist noch immer aufwühlend und passt sicher zu diesen Zeiten.