Franzi hat noch nie in ihrem Leben einen See gesehen. Damit ist die 13-Jährige nicht alleine: So wie ihr geht es vielen Schülerinnen und Schülern am Sonderpädagogischen Förderzentrum München Mitte I (SFZ). Mal über das Wochenende in die Berge fahren? Finanziell einfach nicht drin für viele Familien. Daher haben die Bayerische Seglervereinigung (BSV) und die Münchner Steuerberatungsgesellschaft Terratax für acht Kinder und Jugendliche vom SFZ einen kostenlosen dreitägigen Segelkurs auf dem Ammersee organisiert. Motto? „Zusammen gwind“!
Los geht’s erst einmal im Trockenen: Jörg Heinemann, Schatzmeister bei der BSV und selbst passionierter Segler, erklärt den Schülerinnen und Schülern am ersten Tag zunächst ein paar Grundbegriffe aus der Segelsprache: Vom Bug bis zum Heck ist alles mit dabei. Zudem erlernen die Kinder und Jugendlichen den sogenannten Achterknoten – einen der klassischen Seemannsknoten.
Heinemann zeigt sich von der schnellen Auffassungsgabe der Kinder begeistert. Diese lauschen seinen Worten, konzentriert wiederholen sie das Gelernte. „Kinder können das fast besser als die Erwachsenen“, gibt Heinemann zu.
Nach der Theorie ist es dann endlich so weit: Leinen los! Die Kinder und Jugendlichen dürfen aufs Wasser, denn „Segeln lernt man nur durch Segeln“, sagt Heinemann. Noch etwas vorsichtig tasten sie sich vor. Mit der Pinne in der Hand – das ist der Hebel, der die Richtung des Boots vorgibt – geht es nun darum, das Steuern zu erlernen. Der 15-jährige William kann dabei sogar schon auf etwas Vorerfahrung zurückgreifen: Er ist vor dem Kurs auf dem Ammersee schon einmal zusammen mit den Pfadfindern gesegelt. Doch auch er muss sich auf dem Boot erst einmal zurechtfinden. Ganz schön ungewohnt.
Der Wind spielt von Anfang an mit: Laut Heinemann sind die Segelbedingungen an allen drei Tagen anfängerfreundlich. Die Windgeschwindigkeit befinde sich mit zehn bis 15 Stundenkilometern im unteren Bereich. Am letzten Tag hätte der Wind sogar etwas stärker sein können. „Man denkt, man bleibt stehen“, sagt der 17-jährige Felix. Doch irgendwie geht es dann doch weiter.
Nur einmal wird’s gefährlich – Franzi durchlebt eine Schrecksekunde: Die 13-Jährige ist mit dem Boot unterwegs, das Ufer ist weit entfernt. Um die Aussicht besser genießen zu können, setzt sie sich ganz nach vorn an den Bug des Boots. Der Wind gleicht eher einem lauen Lüftchen. Doch plötzlich frischt es auf: eine starke Windböe. Fast hätte sie Franzi ins Wasser geweht. Gerade noch rechtzeitig hält sich das Mädchen am Boot fest. Glück gehabt!
Der Kurs fühlt sich für die Kinder wie Urlaub an
Die Kinder und Jugendlichen dürfen an den drei Tagen mit unterschiedlichen Bootsklassen fahren: Zunächst segeln sie auf Jollen und Yachten. Der Unterschied zwischen diesen beiden Typen? Die Jolle hat ein Schwert, das aussieht wie eine rechteckige Platte, die unten aus dem Rumpf herausragt. Es dient dazu, den Kurs zu halten. Dagegen verfügen Yachten über ein Ballastgewicht am Kiel – dem untersten, mittleren Balken, der entlang des Rumpfes von vorn nach hinten verläuft. Die größte und älteste Segelyacht der BSV heißt Sturmvogel. Der Zweimaster bietet mit einer Länge von 11,60 Metern mehreren Menschen Platz und ist schon 127 Jahre alt.
Zum Abschluss erwartet die zwei kleinsten der acht Teilnehmenden – Tomy und Andreas – noch ein Highlight: Für sie geht es ganz alleine auf die Optimisten. Denn die Boote, unter Seglern Optis genannt, sind nur 2,30 Meter lang. Damit können sie nur von einer Person gesteuert werden.
Und was hat den Schülerinnen und Schülern jetzt am besten gefallen? Die Antwort darauf kommt schnell und eindeutig: das Steuern mit der Pinne. Zudem haben die Kinder und Jugendlichen beim Segeln die Ruhe auf dem See genossen. „Es war nicht so viel Lärm wie in der Klasse“, sagt Felix. Für Franzi hat es sich sogar „wie Urlaub“ angefühlt. Alles sei vollkommen entspannt gewesen.
Als Schulleiterin des SFZ weiß Karin Güthler nur zu gut, dass dieses Urlaubsgefühl für die Schülerinnen und Schüler etwas ganz Besonderes ist. „Einige von ihnen haben noch nie die Berge gesehen“, erklärt sie. Sie würden selten bis gar nicht aus ihrem direkten persönlichen Umfeld herauskommen, das sie oftmals in ihrer persönlichen Entwicklung belaste. Ausflüge wie der Segelkurs würden dagegen die Eigenverantwortlichkeit der Kinder und Jugendlichen stärken. Sie könnten sich beweisen, Gemeinschaft erleben und mutig sein.
Sabrina Winter-Altpeter, eine der betreuenden Lehrkräfte vom SFZ vor Ort, stimmt ihr zu: Besonders wertvoll findet sie, dass die Schüler beim Segeln nach dem „Trial-and-Error“-Prinzip selbst praktisch ausprobieren können, welche Steuerung im Wind gerade die Beste ist. Sie würden dadurch lernen, wie man mit eigenen sowie fremden Fehlern angemessen umgeht und darüber zusammen spricht. Das gebe Selbstvertrauen.
Und tatsächlich: Sind die Kinder und Jugendlichen am Anfang des Kurses noch vorsichtig, sehen Winter-Altpeter und Heinemann spätestens am zweiten Tag „ein Funkeln in den Augen“. Sie hätten sich immer mehr zugetraut, auch, wenn das Ufer weit weg war. Zum Schluss hätten sich alle heimisch auf den Booten gefühlt. Und: Zum Segeln gehöre es eben auch mal dazu, wie Franzi eine Schrecksekunde zu überstehen, betont Heinemann.
Auch Sophia Pondorf von Terratax zeigt sich begeistert von den Kindern. Sie beschreibt das gesamte Event als ein „schönes Zusammenspiel“: Während die BSV die Boote gestellt hat, hat sich Terratax um den Fahrdienst, die Betreuung vor Ort und die Verpflegung gekümmert. Viele der Schülerinnen und Schüler kommen am Ende des Kurses auf sie zu: Der Segelkurs sei eine der schönsten Erfahrungen gewesen, die sie je gemacht haben.
Das SFZ könnte vom „Startchancen-Programm“ profitieren
Dass ein Segelevent nur ein kleiner Schritt zu mehr Eigenverantwortlichkeit der Schüler darstellt, ist allen Beteiligten klar. Um den Kindern und Jugendlichen später berufliche und soziale Teilhabe in der Gesellschaft zu ermöglichen – Tomy träumt beispielsweise davon, Industriemechaniker oder Fußballer zu werden –, braucht das SFZ vor allem eine funktionierende Infrastruktur. Zwar sei diese gut in Schuss, erklärt der stellvertretende Schulleiter Peter Kaiser. Allerdings reiche der Platz im Gebäude für die insgesamt 240 Kinder und Jugendlichen nicht aus. Die Zahl der Anfragen für neue Plätze sei hoch. Zudem würde sich der Förderbedarf in den Bereichen Lernen, Sprache und emotional-soziale Entwicklung heute komplexer als früher gestalten.
Winter-Altpeter wünscht sich darüber hinaus einen verbesserten IT-Support. Obwohl sie und ihre Kolleginnen und Kollegen in einem Pilotprojekt schon seit zwei Jahren mit Tablets unterrichten, funktioniere die Technik nicht immer reibungslos. Mehr Medienkompetenz sei den Kindern unter diesen Umständen nur schwer zu vermitteln.
In Berlin will man solche Probleme mit mehr Geld lösen. Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestags hat gerade die ersten Mittel für das „Startchancen-Programm“ der Ampel-Koalition freigegeben. Zehn Milliarden Euro möchte der Bund gezielt in Schulen mit einem hohen Anteil benachteiligter Schüler stecken, um das Aufstiegsversprechen zu erneuern, wie es der FDP-Fraktionsvorsitzende Christian Dürr ausdrückt. Im SFZ würde man sich sicherlich darüber freuen.