„Vom Verblassen der Bilder“, heißt die Ausstellung der Münchner Künstlerin Victoria Martini, die noch bis zum 7. September im Raum B1 in Utting zu sehen ist. Geöffnet ist die Ausstellung nur jeweils drei Stunden an den Sonntagnachmittagen und zum Abschluss noch einmal am Abend der Finissage. Aber man kann den Bildern durch das große, nach Westen ausgerichtete Schaufenster jeden Tag beim „Verblassen“ zusehen: Je nach Lichteinfall verändern sich die mit hellem Faden aufgestickten Motive, sie treten gleichsam reliefartig hervor oder verbinden sich beinahe vollständig mit dem naturweißen Nesselhintergrund.
Bilder, die mit Nadel und Faden gestickt werden – kann das eine ernst zu nehmende künstlerische Praxis sein? Oder ist das nicht eher eine Art Handarbeit? Die Geschichte des Stickens ist Jahrtausende alt. Die als typisch weiblich geltende Handwerkskunst erlebte in den mittelalterlichen Frauenklöstern ihre erste große Blüte. Die Nonnen bestickten nach gezeichneten Vorlagen vor allem Altartücher und andere Textilien für den sakralen Gebrauch.
Spätestens im 19. Jahrhundert fand die sogenannte Weißstickerei, bei der mit weißem Faden auf weißem Stoff gearbeitet wurde, Verbreitung im Alltag. Sie diente in erster Linie der Kennzeichnung von Bettwäsche und Tischwäsche für die Mitgift einer Braut, hatte aber den angenehmen Nebeneffekt, dass stickende Mädchen nicht lesen und auch sonst nicht auf kluge Gedanken kommen konnten. Noch auf dem 1920 entstandenen Gemälde „Interieur mit Maler“, heute im Buchheim-Museum in Bernried, stellte Ernst Ludwig Kirchner die Abgründe einer Beziehung dar – und seine Lebensgefährtin Erna Schilling, die tief gebeugt eine Stickarbeit nach seinen eigenen Entwürfen ausführen musste.
Wie aber fand die Malerin Victoria Martini zu ihrer höchst eigenwilligen Art der Weißstickerei? 1971 in Belgien geboren, studierte sie nach einem Studium der Innenarchitektur und einem abgebrochenen Studium der Politikwissenschaft Malerei bei Wolfgang Gäfgen an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Sie berichtet, dass sie während des Studiums in einer Ausstellung von David Hockney entdeckte, wie der Maler die Leinwand als gestalterisches Mittel einsetzt. Sie begann, ebenfalls in diese Richtung zu experimentieren, bis schließlich die Leinwandfläche selbst zum Bild wurde. Mit Handarbeit hat ihr Vorgehen nur insofern etwas zu tun, als sie den Nesselstoff, auf den sie eine Vorzeichnung aufgebracht hat, in einem traditionellen Stickrahmen bestickt, bevor sie ihn aufspannt und dann auch noch mit Farbe bearbeitet.


Für die in Utting gezeigten Bilder dienten ihr Fotografien, zumeist historische Aufnahmen, als Vorlagen: Eine Häuserzeile im Stadtviertel Haight Ashbury in San Francisco und ein Haus, das nach dem Erdbeben von 1906 in Schieflage geraten war. Viktorianische Architektur, ein Fachwerkhaus in Nürnberg, das klassizistische Atelier des NS-Architekten Cäsar Pinnau in Hamburg-Altona, ein typisch amerikanisches Einfamilienhaus oder ein von Palmen gesäumter Prachtboulevard in Los Angeles. Der aufgestickte Bildteil steht jeweils für einen vermeintlich schützenden Lebensraum, der von einem zweiten, gemalten Teil des Bildes gleichsam überlappt wird: Diese mit Tönen zwischen wassergrau, schlammgrün und sandbeige aufgebrachten Partien symbolisieren Hochwasser, Starkregen, Sturm oder auch Dürre, werden jedoch nur andeutungsweise und ebenfalls mit vielen Leerräumen dargestellt. Es ergibt sich ein Bild in extrem verhaltenen Nichtfarben, dessen beide Teile vom Betrachter gleichsam vervollständigt werden müssen.
Für die Künstlerin geht es in diesen Bildern, die nur auf den ersten Blick zurückhaltend oder gar idyllisch sind, einerseits um die Bedrohung von individuellen Lebenswelten durch Klimakatastrophen, aber auch durch soziale Gefälle oder politische Systeme. Andererseits will sie in diesen Arbeiten mit dem „Verblassen der Bilder“ das schnell nachlassende Interesse der Öffentlichkeit an den Nachrichten aus Katastrophengebieten versinnbildlichen.
Die Ausstellung „Vom Verblassen der Bilder“ von Victoria Martini ist bis zum 7. September im Raum B1 in Utting zu sehen.